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Migration und Pflegekinderwesen


Dr. Harry Hubert

Im Nachkriegsdeutschland gab es ab Mitte der 1950er Jahre aus wirtschaftlichen Gründen mit verschiedenen Ländern Vereinbarungen über die Anwerbung von Arbeitskräften. Trotz des Anwerbestopps 1973 sind Zuwanderungen aber immer noch möglich, z.B. im Wege der Familienzusammenführung, aus humanitären Gründen, zur qualifizierten Beschäftigung (green card), zur Ausbildung oder auch im Asylverfahren. Dies hat zur Folge, dass heute über 25% der in der Mainmetropole lebenden Menschen keinen deutschen Pass haben. Fast jedes zweite in Frankfurt am Main lebende Kind ist nichtdeutscher Herkunft ist. Da ist es naheliegend, dass auch die Jugendhilfe die besonderen Aspekte der Migration zu berücksichtigen hat. Wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft und sind seit langem Einwanderungsland.
Es gibt Kinder, die aus unterschiedlichsten Gründen ihr Elternhaus verlassen müssen und nicht mehr in ihrer Herkunftsfamilie bleiben können. Sie werden dann in aller Regel in einer Heimeinrichtung untergebracht. Zur Heimerziehung besteht aber eine Alternative, die Pflegefamilie. Der Bedarf für zugewanderte Familien an Hilfen zur Erziehung in Vollzeitpflege wächst, das bestätigen bundesweit die Fachkräfte der Jugendhilfe. Laut Jugendhilfestatistik sind Kinder aus Migrantenfamilien in der Pflegekinderhilfe jedoch unterrepräsentiert, sie befinden sich eher in Heimerziehung. Muss das so sein? Es stellt sich die Frage, ob deutsche Pflegeeltern in der Lage sind, Pflegekinder mit Migrationshintergrund aufzunehmen und inwieweit nicht auch Pflegeeltern aus anderen Kulturkreisen für eine solche Aufgabe gewonnen werden können und was dabei zu beachten wäre.
Das Frankfurter Jugendamt betreut – bei 50 bis 60 Neuzugängen pro Jahr – jährlich ca. 450 Pflegekinder mit geschätztem relativ hohem Anteil an Ausländern. Die Nationalität der Pflegekinder, die zumeist außerhalb Frankfurts unterkommen, wird jedoch statistisch nicht erfasst. Viele der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge werden von Verwandten aufgenommen, ohne dies gesondert zu registrieren. Die Homepage des Pflegekinderdienstes auf dem Internetportal des Frankfurter Jugendamtes enthält hierzu keine näheren Informationen. Auf diesen Aspekt wird leider nicht besonders eingegangen, auch nicht auf den Web-Seiten der weit über 100 anderen Jugendämter in der BRD. Googelt man die Begriffe „Migration“ und „Pflegekinderwesen“, so kann man feststellen, dass bundesweit nur einige wenige Modelle existieren, z.B. in Hamm und Mönchengladbach , die dieser Frage nachgegangen sind und beispielgebende Projekte initiiert haben.
Auf Grund des wachsenden Anteils nichtdeutscher Kinder in unserer Gesellschaft müssen für diesen Personenkreis im Rahmen der Jugendhilfe entsprechende Unterbringungsmöglichkeiten in Pflegefamilien vorgehalten werden. Dabei drängt sich die Frage auf, ob nicht auch Pflegefamilien aus dem Kreis der Migranten diese Aufgaben übernehmen können. Um zu prüfen, ob hiergegen möglicherweise rechtliche Einwände zu erheben sind, schauen wir uns zunächst die einschlägigen Vorschriften des Jugendhilfe- und des Kindschaftsrechts, aber auch deren Verknüpfungen mit dem internationalen Recht genauer an.


Jugendhilfe- und kindschaftsrechtliche Aspekte

Das nach dem 2. Weltkrieg geschaffene Grundgesetz (1949) stellt Ehe und Familie (Art. 6) ausdrücklich unter den besonderen Schutz des Staates. Verfassungsgemäß ist die Pflege und Erziehung eines Kindes nicht nur das natürliche Recht der Eltern, sondern auch die zu aller erst ihnen obliegende Pflicht. Nur wenn Eltern nicht dazu in der Lage oder nicht Willens sind zum Wohle ihrer Kinder zu handeln, ist es Aufgabe des Staates (Polizei, Familiengericht, Jugendamt) zu intervenieren. In der Präambel des SGB VIII heißt es, dass jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen, gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit genießt und in Anlehnung an Art. 6 Abs. 2 GG wird noch einmal das sog. Staatliche Wächteramt bekräftigt. Zu den vielfach zitierten Zielen und Aufgaben der Jugendhilfe gehört die Förderung der individuellen und sozialen Entwicklung. Hiervon sind die jungen Menschen mit Migrationshintergrund nicht ausgenommen, denn gerade bei ihnen muss es doch zur Wahrung von Chancengleichheit darum gehen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen. Auch sie sind vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen und es gehört zu einer kinder- und familienfreundlichen Umwelt, dass auch für diesen Personenkreis positive Lebensbedingungen entwickelt werden.
Die Rechtsgrundlagen für gerichtliche Maßnahmen bei einer Gefährdung des Kindeswohls ergeben sich zunächst aus dem § 1666 BGB. Nach dieser Vorschrift hat das Familiengericht Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung einer Gefährdung notwendig sind, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes beeinträchtigt ist. § 1666 BGB stellt aber nicht nur eine Handlungsmaxime für das Familiengericht dar. Einschlägige Rechtsnormen verpflichten auch das Jugendamt, als öffentlichem Träger der Jugendhilfe, zu einem nachhaltigen Tätigwerden. Unterlassene Hilfe kann strafrechtlich verfolgt werden.
Kinder dürfen nur aufgrund eines Gesetzes gegen den Willen der Eltern von ihrer Familie getrennt werden, wenn diese versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. Gesetzliche Eingriffsmöglichkeiten zum Kinderschutz bestehen gemäß dem 2005 in Kraft getretenen § 8a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung). Erhält das Jugendamt konkrete Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung, so hat es das Gefährdungsrisiko, zur Vermeidung allzu subjektiver Wahrnehmung, im Zusammenwirken mit mehreren Fachkräften abzuschätzen. Werden notwendig erachtete Hilfen seitens der Eltern nicht akzeptiert oder wirken sie nicht in geeignetem Maße mit, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Familiengericht einzuschalten. Die Jugendbehörde ist zur Krisenintervention und Schutzgewährung gegenüber Minderjährigen verpflichtet. Gemäß § 42 SGB VIII muss es auch Kinder in Obhut nehmen, wenn diese selbst darum bitten oder eine akute Kindeswohlgefährdung dies erforderlich macht. Das Staatliche Wächteramt beinhaltet nun zwei Möglichkeiten, zunächst die Hilfe für das Kind durch Unterstützung der Eltern und, wenn das nicht ausreicht, die Hilfe für das Kind durch massive Intervention, wie z.B. das Herausnehmen des Kindes aus der Familie.
Eltern haben bei der Erziehung eines Kindes Anspruch auf Hilfe, wenn eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Diese Hilfe umfasst die Gewährung pädagogischer sowie damit evtl. verbundener therapeutischer Leistungen. Die zentrale Grundnorm für Hilfen zur Erziehung ist in § 27 SGB VIII enthalten.


Vollzeitpflege

Zu den Hilfen zur Erziehung zählt nun auch die Vollzeitpflege gemäß § 33 SGB VIII. Diese Hilfeform soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten. Die erforderliche Verbleibensanordnung gemäß § 1632 BGB in Familienpflege kann nur das Familiengericht erlassen. Ein Kind soll bei der Pflegeperson verbleiben, wenn und solange das Kindeswohl durch die Wegnahme gefährdet würde. Die Pflegeperson ist berechtigt, in den allen Angelegenheiten des täglichen Lebens zu entscheiden und den eigentlichen Inhaber der elterlichen Sorge in solchen Angelegenheiten zu vertreten. Die Entscheidungsbefugnisse einer Pflegeperson werden in § 1688 BGB geregelt.
Ein zentraler Bestandteil der Hilfen zur Erziehung ist das gesetzlich zwingend vorgeschriebene Hilfeplanverfahren gemäß § 36 SGB VIII. Die Eltern und das betroffene Kind sind vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe und vor einer notwendigen Änderung von Art und Umfang der Hilfe zu beraten und auf die möglichen Folgen für die Entwicklung des Kindes hinzuweisen. Der Wahl und den Wünschen ist zu entsprechen, sofern sie nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sind. Das Hilfeplanverfahren regelt nicht nur das Procedere, es appelliert auch an die Eltern entsprechend mitzuwirken und es schreibt regelmäßige Erfolgskontrollen in kollegialer Beratung vor. Werden bei der Durchführung der Hilfe andere Personen – wie beispielsweise Pflegeeltern – tätig, so sind sie oder deren Mitarbeiter an der Aufstellung des Hilfeplans und seiner Überprüfung zu beteiligen.
Der Umgang des Kindes mit seinen Eltern kann sich, dass zeigt die Praxis, mitunter sehr schwierig gestalten. Dennoch hat ein Kind gemäß § 1684 BGB das Recht auf Umgang mit jedem – auch nichtdeutschen – Elternteil; darüber hinaus ist jeder Elternteil zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt, wenn das Familiengericht hierzu keine andere Anordnung getroffen hat. Kinder haben einen eigenen Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts.
Sie sollen gemäß § 18 SGB VIII darin unterstützt werden, dass die Personen, die zum Umgang mit ihnen berechtigt sind, von diesem Recht zu ihrem Wohl auch Gebrauch machen. Eltern, andere Umgangsberechtigte sowie Personen, in deren Obhut sich das Kind befindet – also Pflegefamilien –, haben ebenfalls Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts. Pflegeeltern unterliegen diversen Verpflichtungen, die sich z.B. auch aus § 832 BGB ergeben können. Hier werden die Haftung von Aufsichtspflichtigen bzw. die Folgen einer Aufsichtspflichtverletzung geregelt. Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt allerdings nicht ein, wenn der Betreffende seiner Aufsichtspflicht nachgekommen ist. Ein weiterer Punkt sind die Möglichkeiten bzw. Grenzen der Personensorge, deren Missachtung gemäß § 44 SGB VIII zur Aufhebung einer bestehenden Vollzeitpflege führen kann oder gar zu strafrechtlichen Konsequenzen.
Zwei Grundsätze in der Kinder- und Jugendhilfe sind in diesem Zusammenhang besonders wichtig, da sie für die gesamte Sozialisation, aber auch für den Prozess der Einordnung des Individuums in die Gesellschaft, von eminenter Bedeutung sind. Zum einen ist dies das in § 1631 Abs. 2 BGB enthaltene Recht auf gewaltfreie Erziehung. Dies ist zwar noch nicht lange so, man denke nur an die Diskussionen über die Akzeptanz der „gut gemeinten Ohrfeige“. Mittlerweile haben Kinder – auch nichtdeutsche – ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Ein Zuwiderhandeln kann strafrechtlich verfolgt werden. Der zweite Grundsatz, der auch für Kinder aus Migrantenfamilien gilt, ist die analog zu Art. 3 GG in § 9 Abs. 3 des SGB VIII verbriefte Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen. Bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllung der anderen Aufgaben der Jugendhilfe sind die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen besonders zu berücksichtigen, d.h. Benachteiligungen sind abzubauen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen ist entsprechend zu fördern. Die unterschiedlichen – auch religiösen – Grundrichtungen elterlicher Erziehung sind in Anlehnung an Art. 4 GG ebenfalls gemäß § 9 SGB VIII zu beachten. Dies gilt allerdings nur, wenn diese mit den in der BRD gültigen Gesetzen vereinbar sind.
In § 37 SGB VIII wird die Zusammenarbeit bei Hilfen außerhalb der eigenen Familie behandelt. Zur Stärkung des Kindeswohls ist die Beteiligung aller Personen überaus wichtig, dies gilt insbesondere in interkulturellen Konstellationen. Es fördert einerseits die Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie oder – wenn dies nicht möglich ist – andererseits die Entwicklung langfristiger Lebensperspektiven des Kindes in der Pflegefamilie. Aus diesem Grund haben nicht nur die leiblichen Eltern, sondern auch die Pflegeeltern einen Rechtsanspruch auf Beratung und Unterstützung durch das Jugendamt. Die vorhandenen Bindungen eines Kindes zu seinem Elternhaus, aber auch die neu entwickelten Bindungen zur Pflegefamilie und umgekehrt spielen dabei eine große Rolle und die bestehende Emotionalität kann durchaus eine objektive Sicht der Dinge verhindern. Ebenso können auch beim Umgangsrecht zur Aufrechterhaltung der Beziehung zu den Geschwistern Schwierigkeiten auftreten.
Im Gegensatz zu seinem Vorgängermodell dem JWG, das sich als reines Eingriffsrecht verstand, wurde mit dem SGB VIII ein weiterer wichtiger Aspekt eingeführt. Gemäß § 8 SGB VIII steht Kindern nunmehr ein Beteiligungsrecht zu, d.h. Kinder haben das Recht, sich in allen Angelegenheiten der Erziehung und Entwicklung selbst an das Jugendamt zu wenden. Sie können auch ohne Zustimmung ihrer Eltern beraten werden, wenn die Beratung aufgrund einer Not- und Konfliktlage erforderlich ist und solange durch die Mitteilung an die Eltern der Beratungszweck vereitelt werden würde.
Auch Pflegeeltern sollen bei der Bewältigung der von ihnen übernommenen Aufgabe nicht alleine gelassen werden. Gemäß § 38 SGB VIII werden sie bei der Ausübung der Personensorge seitens des Jugendamtes unterstützt.
Es stellt sich nun die Frage, ob die bestehenden Rechtsgrundlagen weiter optimiert werden müssen? In der einschlägigen Fachliteratur wird die Rolle des Jugendamtes in diesem Zusammenhang durchaus kritisch betrachtet. Sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter für ihre Beraterrolle ausreichend qualifiziert und werden sie entsprechend weitergebildet? Stehen für diese Form der Hilfen zur Erziehung auch ausreichende finanzielle Ressourcen zur Verfügung? Wie sieht es aus mit der interkulturellen Kompetenz gerade im Hinblick auf Kinder aus Migrantenfamilien?


Mitwirkungspflichten des Jugendamtes

Gemäß § 50 SGB VIII unterstützt das Jugendamt das Familiengericht bei allen Maßnahmen, die die Sorge für die Person von Kindern betreffen. Es wirkt demzufolge in Kindschafts-, Abstammungs-, Adoptions-, Ehewohnungs- und in Gewaltschutzsachen mit. Das Jugendamt informiert über angebotene und erbrachte Leistungen, bringt erzieherische und soziale Gesichtspunkte zur Entwicklung des jungen Menschen ein und zeigt mögliche Hilfe auf. In Kindschaftssachen berichtet es dem Familiengericht über den jeweiligen Stand des Beratungsprozesses.
2009 trat das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) in Kraft. Mit dem neuen Familienverfahrensrecht wurden das FGG und Teile der ZPO abgelöst. Die Mitwirkungspflichten sind nun analog zu § 50 SGB VIII in § 162 FamFG geregelt. „Das Gericht hat in Verfahren, die die Person des Kindes betreffen, das Jugendamt anzuhören.“ Das Familiengericht hat gemäß § 158 FamFG dem minderjährigen Kind in Kindschaftssachen auch einen geeigneten Verfahrensbeistand („Anwalt des Kindes“) zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung seiner Interessen erforderlich ist. Die Bestellung ist i.d.R. erforderlich, wenn das Interesse des Kindes zu dem seiner gesetzlichen Vertreter in erheblichem Gegensatz steht. Der Verfahrensbeistand hat das Interesse des Kindes festzustellen und im gerichtlichen Verfahren zur Geltung zu bringen. In Verfahren, die die Person eines Kindes betreffen, kann das Familiengericht im Interesse des Kindes gemäß § 161 FamFG auch die Pflegeperson als Beteiligte hinzuziehen, wenn das Kind längere Zeit in Familiepflege lebt. Ist dies der Fall, so muss die Pflegeperson vor einer Entscheidung angehört werden.
Das SGB VIII und das Kindschaftsrecht werden regelmäßig durch Änderungsgesetze neuen Erkenntnissen und Entwicklungen im Kinderschutz angepasst und im Hinblick auf sich ändernde Anforderungen weiterentwickelt. Dies klingt euphorisch. Die Praxis zeigt aber, dass eine flächendeckende Umsetzung dieser gesetzlichen Vorgaben z.B. durch politische und monetäre Faktoren konterkariert werden kann oder schlicht und einfach an menschlichem Versagen in der Einzelfallarbeit scheitert. Dem gilt es entgegen zu wirken.


Globalisierung von Kinderrechten

Mit der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1989 wurde die Globalisierung der Kinderrechten eingeleitet. Nach erfolgter Unterzeichnung ist die UN-KRK in Deutschland im Jahre 1992 in Kraft getreten. Hier sollen vier Artikel hervorgehoben werden. Gemäß Art. 3 der Konvention verpflichten sich die Vertragsstaaten bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen, das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen. In Art. 18 wird anerkannt, dass grundsätzlich in erster Linie beide Elternteile für die Erziehung und Entwicklung des Kindes die Verantwortung tragen. Zur Wahrung des Kindeswohls sind diese angemessen zu unterstützen. Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich, für den notwendigen Auf- und Ausbau geeigneter Institutionen, Einrichtungen und Dienste zu sorgen, um damit ausreichende Angebote für Kinderbetreuung vorhalten und Eltern bei ihren Erziehungsaufgaben helfen zu können. Nach Art. 19 verpflichten sich die Vertragsstaaten, wirksame Schutzmaßnahmen zu treffen, um Kinder vor jeglicher Form physischer oder psychischer Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung, Vernachlässigung oder gar Ausbeutung zu bewahren. Die Schutzkonzepte sollen präventive, reaktive aber auch nachsorgende Schritte enthalten. Gemäß Art. 24 erkennen die Vertragsstaaten das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit an. Diese Vorgaben wurden in der BRD durch die einschlägigen Normen im BGB, SGB VIII sowie im FamFG in nationales Recht umgesetzt.
Ende 2010 trat das Haager Minderjährigenschutzabkommen (MSA) von 1961 außer Kraft. Es verpflichtete ebenfalls zur Ergreifung von Schutzmaßnahmen für Minderjährige, falls dies erforderlich war. Dieses Abkommen wurde am 01.01.2011 durch das Haager Kinderschutzübereinkommen von 1996 – KSÜ – abgelöst.


Pflegekinderwesen und Zuwanderung

Rechtliche Einschränkungen, die es verbieten würden, Pflegeeltern mit Migrationshintergrund zur Betreuung von Kindern einzuwerben, bestehen nicht. Für die persönliche Eignung gelten die gleichen Voraussetzungen wie für deutsche Pflegeeltern auch. Die Aufnahme von Pflegekindern mit Migrationshintergrund setzt aber das Vorhandensein von interkultureller Kompetenz als sozialer Schlüsselkompetenz voraus.
Als in den 1950er Jahren im Zeichen des Wirtschaftsaufschwungs die ersten Anwerbeverträge unterzeichnet wurden, waren bedauerlicherweise die damit automatisch verbundenen sozialen Fragen ausgeklammert. Weder in den Entsendeländern noch in der aufnehmenden Bundesrepublik wurden die angeworbenen Arbeitskräfte hinreichend auf das Leben in der Diaspora, auf die zu erwartenden familiären, religiösen, kulturellen und sonstigen Schwierigkeiten vorbereitet. Dies gilt insbesondere für Muslime. Und es gilt natürlich auch für den Personenkreis, der in die BRD flüchtet und gemäß Art. 16a GG um Asyl bittet.
Von diesen Versäumnissen der Aufklärung und geeigneten Vorbereitung waren nicht nur die bisherigen Generationen betroffen, hiervon werden wohl auch noch nachfolgende Generationen der hier lebenden Migrantinnen und Migranten tangiert sein. Der Erwerb interkultureller Kompetenz auf allen gesellschaftlichen Ebenen, also auch in der Jugendhilfe, ist aus diesem Grunde unbedingt erforderlich und entsprechend zu fördern. In der Fachöffentlichkeit findet hier durchaus eine Entwicklung statt. So wurde aus dem damaligen Gastarbeiter heute der ausländische Mitbürger und die früher so bezeichnete Ausländerarbeit entwickelte sich über die Interkulturelle Soziale Arbeit zur Sozialen Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft.
Ausländische Familien, insbesondere Kinder und Jugendliche, verlieren in der BRD ihre originäre kulturelle Identität. Sie leben nicht in sondern zwischen zwei Welten. Kultur, Mentalität und Sprache des Herkunftslandes werden fast ausschließlich durch die Eltern und Verwandtschaft vermittelt. Der im Aufenthaltsland mit Vorurteilen behaftete Ausländerstatus verhindert oft eine tatsächliche Integration. Die Persönlichkeitsentwicklung junger Ausländer wird durch einen Kulturknick und Sozialisationsbruch nachhaltig beeinflusst. Zur objektiv feststellbaren Benachteiligung in Schule und Beruf kommen noch Orientierungs- und Perspektivlosigkeit hinzu. Vor allem ist die Sozialisation muslimischer Kinder durch ein Leben zwischen zwei Welten gekennzeichnet. Sie pendeln tagtäglich zwischen zwei unterschiedlichen Wertesystemen hin und her: Der Herkunftsfamilie und der deutschen Gesellschaft (Schule, Umfeld, Freunde, Vereine usw.).
Hier lassen sich klassisch zwei polarisierende Varianten unterscheiden. In der einen ist das Kind in der Herkunftskultur verankert, möchte aber gerne zur deutschen Kultur gehören (deutsche, nicht-muslimische Freunde; Freizeitkultur etc.). In der anderen, entgegen gesetzten fühlt sich das Kind in der deutschen Kultur wohl, wird aber immer wieder von der Familie (Eltern, Verwandte) veranlasst, sich in der Herkunftskultur heimisch zu fühlen. Idealtypisch hierzu wäre eine dritte Variante, als wahrscheinlich günstigster Lebensentwurf: Das Kind entwickelt eine eigene, unabhängige kulturelle Identität, die es ihm ermöglicht, sicher mit der Herkunftskultur zu agieren gleichzeitig aber auch mit der deutschen Gesellschaft umzugehen.
Ein zweiter wesentlicher Aspekt bildet das durch Erziehung erworbene soziale Weltbild. Die von uns Deutschen mehrheitlich wertgeschätzten Tugenden wie beispielsweise Pünktlichkeit, Ordnung und Sauberkeit sind eben nicht weltweit gültig, sie sind vielmehr kulturabhängig und werden selbst von uns nicht immer und schon gar nicht von jedem eingehalten. In ihrem Erfahrungs-, Lern- und Übungsprogramm zum Erwerb interkultureller Kompetenz benennen Sabine Handschuck und Willy Klawe einige Parameter, welche die Diskrepanz zwischen der in der BRD dominierenden Ich-zentrierten Kultur (Individualismus) und der in vielen Herkunftsländern vorherrschenden Wir-zentrierten Kultur (Kollektivismus) verdeutlichen. Unterschiede, Missverständnisse und mögliche Konfliktlinien lassen sich anhand solcher Parameter anschaulich aufzeigen, aber auch – mit Blick auf die Bundesrepublik – wie sich Weltanschauungen und Verhaltensweisen im Laufe der Jahre durchaus ändern können. Zu nennen ist hier z.B. die Divergenz zwischen Individualität (Egoismus, Kleinfamilie) und Gemeinschaft (Wir-Gefühl, Familienzusammenhalt), die Differenz zwischen Schuld (Verlust der Selbstachtung) und Schande (Verlust der Familienehre), die Polarität zwischen Unabhängigkeit (Individuum) und Zugehörigkeit (Gemeinschaft) oder der Antagonismus zwischen der Schaffung von separaten Lebensräumen für Kinder und Erwachsene (eigenes Zimmer, Bettruhe) und gemeinschaftlichen Lebensräumen für Junge und Alte. Zur persönlichen Eignung von Pflegeeltern bei der Aufnahme eines nichtdeutschen Pflegekindes enthält die Fachliteratur so gut wie keine Informationen. Dasselbe gilt erst recht für Voraussetzungen, die an ausländische Pflegefamilien gestellt werden müssen. Pflegeeltern sollen grundsätzlich über die Bereitschaft verfügen, sich sensibel mit der kulturellen Herkunft des Pflegekindes vertraut zu machen, da diese nicht völlig verdrängt, sondern zumindest teilweise bewahrt werden soll, da generell eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie nicht ausgeschlossen werden kann und die Identität des Kindes bewahrt bleiben muss. Bei ausländischen Pflegefamilien wiederum müssen gute Kenntnisse der deutschen Sprache, ein gesicherter, möglichst dauerhafter Aufenthaltsstatus, Integrationswille und die Bereitschaft zur Übernahme sozialer Verantwortung in der deutschen Gesellschaft vorhanden sein. Unerlässlich sind dabei die Kenntnis von Grundzügen des oben ausführlich beschriebenen deutschen Kindschafts- und Jugendhilferechts und dessen Akzeptanz insbesondere im Hinblick auf § 1631 BGB und § 9 SGB VIII. In beiden Fällen gilt: Vorurteilsbeladene, intolerante und nicht auf dem Boden demokratischer Grundrechte stehende Menschen eignen sich nicht als Pflegeeltern. Sowohl deutsche als auch nichtdeutsche Pflegeeltern sollten interkulturelle Kompetenz mitbringen.


Ausblick

Auf dem Hintergrund der demografischen Entwicklung Deutschlands wird die Pflegekinderhilfe stärker als bisher Kinder mit Zuwanderungsgeschichte in den Blick nehmen müssen. Dabei darf die Einwerbung geeigneter Pflegefamilien mit Migrationshintergrund nicht tabuisiert werden. Andererseits sollten sich aber auch genügend Zugewanderte als Ausdruck eines ernstgemeinten Integrationswillens für eine solche Aufgabe zur Verfügung stellen.

Dr. Harry Herrmann-Hubert
Am Lindenbaum 38, 60433 Frankfurt am Main
www.herrmann-hubert.de


1 Vorliegender Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages, den der Autor in einer Arbeitsgruppe anlässlich der IGfH-Bundestagung „Erziehungsstellen/Pflegefamilien - Mit zwei Familien leben“ am 02.03.2012 an der Fachhochschule Frankfurt a.M. gehalten hat.

2 Zur besseren Lesbarkeit impliziert der Begriff „Kinder“ alle Minderjährigen, also auch Jugendliche.

3 Vgl. Kindler, H. u.a. (Hg.) (2011): Handbuch Pflegekinderhilfe, München.

4 Vgl. WOGE e.V./Institut für soziale Arbeit e.V. (Hg) (2000): Handbuch der Sozialen Arbeit mit Kinderflüchtlingen, Münster.

5 www.moses-online.de/artikel/tuerkische-pflegeeltern-deutsche-kinder.

6 www.moses-online.de/artikel/vollzeitpflegefamilien-zuwanderergeschichte.

7 Vgl. Münder, J. u.a. (Hg.) (2009): Frankfurter Kommentar zum SGB VIII: Kinder und Jugendhilfe, 6. Aufl., Baden-Baden.

8 Mit dem Begriff „Eltern“ sind auch immer sonstige Personensorgeberechtigte gemeint.

9 Vgl. Fieseler, G./Herborth, R. (2010): Recht der Familie und Jugendhilfe, 7. Aufl., Köln, Seite 370 ff.

10 Vgl. Meysen, T. u.a. (2009): Das Familienverfahrensrecht – FamFG, Köln.

11 Vgl. Salgo, L. u.a. (2002): Verfahrenspflegschaft für Kinder und Jugendliche, Köln.

12 Vgl. Zitelmann, M. (2001): Kindeswohl und Kindeswille im Spannungsfeld von Pädagogik und Recht, Münster.

13 Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern.

14 Aufgrund des hohen Anteils von Familien mit Migrationshintergrund wurden vom Jugendhilfeausschuss der Stadt Frankfurt a.M. 2006 „Leitlinien für die interkulturelle Orientierung und Kompetenz in der Kinder- und Jugendhilfe“ beschlossen. Siehe hierzu Hubert, H. (2009): Interkulturelle Orientierung und Kompetenz in der Kinder- und Jugendhilfe am Beispiel der Stadt Frankfurt/M., in: Jugendhilfe 47. Jg. Heft 2 Seite 131 ff. und grundsätzlich Forum Erziehungshilfen: Themenschwerpunkt Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe, 6. Jg. Heft 5/2000.

15 Vgl. Schulte, A./Treichler, A. (2010): Integration und Antidiskriminierung, Weinheim/München.

16 Handschuck, S./Klawe, W. (2004): Interkulturelle Verständigung in der Sozialen Arbeit. Ein Erfahrungs-, Lern- und Übungsprogramm zum Erwerb interkultureller Kompetenz, Weinheim u.a., Seite 17 ff., 271.