JUGEND- UND SOZIALAMT DER STADT FRANKFURT A.M.


BERICHT



über den Internationalen Fachkräfteaustausch zwischen
Frankfurt am Main und der Türkei
in der Zeit vom 27. März bis 07. April 2000

Redaktion:
Harry Hubert – Fachreferat Grundsatz – 51.F14 Leistungen u. andere Aufgaben der Jugendhilfe
           Telefon: 069/212-38236 – e-mail: harry.hubert@stadt-frankfurt.de
Peter Groß – Besonderer Dienst 1: Jugendhilfe – 51.D14 Jugendgerichtshilfe
           Telefon: 069/212-35289 - e-mail: peter.gross@stadt-frankfurt.de
 
Frankfurt am Main im Dezember 2000

Reiseleitung
Harry HUBERT, Jugend- und Sozialamt Stadt Frankfurt a.M. (Delegationsleitung)
Peter GROß, Jugend- und Sozialamt Stadt Frankfurt a.M.
Ali AYDIN, Dipl.Päd., Universität Marburg FB Erziehungswissenschaften
Teilnehmerinnen und Teilnehmer
Elf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugend- und Sozialamtes sowie freier Träger der Jugendhilfe, die im Rahmen ihrer Tätigkeit mit straffällig gewordenen türkischen Jugendlichen und Heranwachsenden zu tun haben. Die Reisegruppe wurde von einer Journalistin der FRANKFURTER RUNDSCHAU begleitet.

Ziele und Inhalte
Von den in Frankfurt am Main lebenden Minderjährigen sind nahezu 40% nicht deutscher Herkunft, ein Großteil davon wächst in türkischen Familien auf. Konkret lebten am 31.12.1999 in Frankfurt am Main 35.872 Personen türkischer Nationalität, davon in den Altersstufen 14 bis 20 Jahre 3.051 Personen. Junge Türkinnen und Türken „beschäftigen“ immer häufiger das Jugendamt sowie Polizei, Staatsanwaltschaft und Jugendgericht. Es ist erforderlich, Kenntnisse über den kulturellen Hintergrund dieser jungen Menschen und ihrer Familien, über deren Herkunftsland (bzw. das ihrer Eltern), ihre Lebensbedingungen und ihre Lebensgewohnheiten zu erlangen. Ziel dieses internationalen Fachkräfteaustausches war es, einige Antworten auf diese Fragen zu finden und den Dialog mit türkischen Fachkräften zu suchen. Es sollte ein Einblick in das türkische System der Jugendgerichtsbarkeit vermittelt und mit Vertreterinnen und Vertretern der dortigen Jugendstrafrechtspflege die Situation straffälliggewordener Jugendlicher in der Türkei diskutiert werden. Ferner ist ein dauerhafter fachlicher Erfahrungsaustausch beabsichtigt, der auch im Umgang mit den hier lebenden türkischen jungen Menschen und deren Familien dienlich sein wird. Die aufgenommenen Kontakte können, in Kooperation mit einem türkischen Träger, mittelfristig zum Aufbau einer Jugendhilfeeinrichtung in der Türkei für hier lebende türkische Jugendliche führen, analog eines bereits in Nador/Marokko von einem marokkanischen und Frankfurter Träger in Zusammenarbeit mit dem Jugend- und Sozialamt der Stadt Frankfurt am Main eingerichteten Projektes (Migrantenprojekt).

Kooperationspartner in der Türkei
Die „Stiftung zur Wiedergewinnung der Freiheit türkischer Kinder“ in Istanbul-Kadıköy (Türkiye Çocuklara Yeniden Özgürlük Vakfı, Rihtim Cad. Yoĝurtçu Şükrü Sok. No. 19, Kadıköy-Istanbul/Türkei, Ansprechpartner: Frau Rechtsanwältin Güney Haştemoĝlu, Tel.: 0216/4149078 bzw. 4493999) ist auf dem Gebiet der Wiedereingliederung straffällig gewordener Kinder in die Gesellschaft tätig. Seit 1985 (bis 1992 zunächst in Vereinsform) betreibt die Stiftung Straffälligenhilfe im Rahmen des Jugendstrafverfahrens. Hierzu zählen die Betreuung während des Strafprozesses, während des Vollzuges einer Freiheitsstrafe und nach der Entlassung. 1995 wurde eine Filiale in Ankara eröffnet. Die Reisegruppe wurde während ihres gesamten Aufenthaltes in der Türkei von der Sozialarbeiterin Emrah Kırımsoy, einer Mitarbeiterin der Stiftung, begleitet.

Programmverlauf

    Montag, den 27. März 2000

  09:45 (MESZ)             Treffen Flughafen Rhein-Main Schalter THY
11:45 (MESZ)              Abflug nach Ankara via Istanbul
17:30 (OZ)                  Ankunft in Ankara
Ankunft der Gruppe am Flughafen in Ankara, Transfer zum Hotel, Begrüßung durch Frau Emrah Kırımsoy, Mitarbeiterin der Filiale Ankara des Kooperationspartners, welche das Programm organisierte und die Gruppe während des Aufenthaltes in der Türkei begleitete. Überreichung einer Informationsmappe mit dem aktualisierten Programmablauf und wichtigen landeskund- lichen Informationen. Gemeinsames Abendessen und erste Diskussion über die Organisation und den Aufgabenbereich des Kooperationspartners, Kurzdarstellung des Jugendstrafrechtswesens der Türkei und der BRD.

  Dienstag, den 28. März 2000

  08:30 – 09:30             Besuch der Deutschen Botschaft Ali Aydin

Angemeldeter Besuch der Deutschen Botschaft in Ankara: Gespräch mit Fr. Gerhild Pinkvoss-Müller. Nach Darstellung von Ziel und Zweck unserer Reise erhalten wir Informationen zur sozialen Infrastruktur der Türkei und der Situation der psychosozialen Versorgung.

Wir wurden von der Sozialreferentin Frau Pinkfoss-Müller empfangen, die für die Aufgaben- bereiche „Arbeit, Soziales, Frauen“ zuständig ist. Harry Hubert übernahm als Delegationsleiter die Begrüßung und bedankte sich im Namen aller für den Empfang.

Anschließend stellte er kurz die drei zentralen Themen und Ziele unserer Reise vor:

·         Zunächst möchten wir uns einen Überblick über die psychosoziale Versorgung in der Türkei verschaffen. In diesem Zusammenhang soll mit dem Besuch der Delegation ein erster Schritt für einen zukünftig regelmäßigen Fachkräfteaustausch getan werden und entsprechende Maßnahmen für einen ersten Gegenbesuch einer türkischen Delegation unternommen werden.
·         Des weiteren möchten wir uns über die türkische Jugendgerichtsbarkeit informieren. In diesem Zusammenhang ist der Besuch verschiedener Einrichtungen und Institutionen geplant.
·         Unser drittes Anliegen ist es, die ersten Schritte für ein Migrantenprojekt einzuleiten, indem wir Kontakte zu entsprechenden Institutionen und Einrichtungen vor Ort knüpfen, dort unser Vorhaben vorstellen und um Unterstützung bitten.

Frau Pinkfoss-Müller unterrichtete uns zunächst über die psychosoziale Versorgung in der Türkei, die in ausreichendem Maße nicht vorhanden sei. Die Türkei sei ein außerordentlich armes Land. Man bemühe sich zwar um den Schutz der Armen, Frauen und Kinder – doch fehle es an finanziellen Mitteln zur Durchführung der notwendigen Maßnahmen. Ein Vergleich mit deutschen Verhältnissen z.B. im Gesundheitswesen oder in der Verbreitung von sozial engagierten Vereinen, Stiftungen etc. sei nicht möglich.

Aus Deutschland in ihre „Heimat“ abgeschobene Asylbewerber werden von keinem ent- sprechenden Versorgungssystem aufgefangen. Für aus Deutschland auf der Grundlage des Ausländergesetzes abgeschobene Migranten, vorallem solche, die in Deutschland aufgewachsen sind, gilt das gleiche. Hier gelte es vielmehr auf das soziale Netzwerk in der Bevölkerung zu vertrauen, das sich anstelle professioneller Einrichtungen mit den entsprechenden Problemen auseinandersetzen muss. Gerade in Anbetracht fehlender Ärzte und Einrichtungen schätzt Frau Pinkfoss-Müller besonders die Ausweisung von psychisch kranken Menschen aus Deutschland in die Türkei als problematisch ein.

Die Türkei bemühe sich zwar sehr um Reformen, doch werde man den mittlerweile gesetzlich verankerten Ansprüchen in der Realität nicht gerecht. So könne bedürftigen Personen, wenn überhaupt, ein Aufenthalt von höchstens drei Monaten in einer psychiatrischen Klinik gewährt werden. Eine ambulante Nachbetreuung oder eine Einbeziehung bzw. Mitbetreuung der Familien sei unter diesen Umständen jedoch nicht möglich.

Die Deutsche Botschaft kann nur intervenieren, wenn sie von türkischer Seite angesprochen wird. Zudem ist sie derzeit schon genügend belastet. Die Bereitschaft zur Verbesserung der Situation ist aber sowohl in der Türkei als auch in der BRD vorhanden. Von daher treffen Vorhaben, die auf die Verbesserung der psychosozialen Versorgung abzielen, auf Unterstützung. Dabei sollte allerdings - auf dem kleinen Dienstweg - viel Wert auf die Zusammenarbeit mit Wohlfahrtsverbänden wie der Arbeiterwohlfahrt, dem Caritas-Verband, dem Diakonischen Werk oder anderen Organisationen, Institutionen und freien Trägern gelegt werden. Insofern seien sowohl das „Migrantenprojekt“ als auch der damit im Zusammenhang stehende Fachkräfteaustausch besonders begrüßenswert.

Das bilaterale Abkommen zwischen der Türkei und Deutschland, das die Grundlage für den problemlosen Ablauf des internationalen Fachkräfteaustauschs bilden sollte, komme seitens der Türkei in Bezug auf unser Vorhaben nicht automatisch zum Tragen. Somit sei auch die Frage nach einem Gegenbesuch seitens der türkischen Fachkräfte nach Deutschland ungeklärt. Die Deutsche Botschaft werde diesbezüglich zu vermitteln versuchen.

Frau Pinkfoss-Müller sicherte uns ihre Unterstützung für das vorgestellte „Migrantenprojekt“ zu und wies gleichzeitig auf die pädagogische Sorgfalt hin, die ein solches Unternehmen erfordere, um die betroffenen Jugendlichen nicht psychisch und seelisch zu gefährden. Außerdem gebe es ihrer Meinung nach weiteren Bedarf an begleitenden Maßnahmen, z.B. im Umfeld der Familienzusammenführung.

Zum Abschluss unseres Besuches wurden noch einige Informationen über die Errichtung der geplanten Jugendhilfeeinrichtung für Erdbebenopfer in Izmit/Köseköy ausgetauscht. err Hubert berichtete, dass nicht nur der Bau des Hauses durch die Stadt Frankfurt a.M. und private Spender finanziert werde, sondern auch die Betreuung für die nächsten zwei Jahre sichergestellt werden soll. Die Baumaßnahmen beginnen im Spätsommer 2000 und werden, so die Planung, vor Einbruch des Winters abgeschlossen sein.

    10:30 – 11:30               Premierministerium/Institut für Sozialarbeit und Kinderschutz, (Kinderschutzbund), Andreas Elm

Besuch des Premierministerium angegliederten Instituts für Sozialarbeit und Kinderschutz (Kinderschutzbund): Gespräch mit dem Direktor des türkischen Kinderschutzbundes Herrn Bülent Ilik. Ausführlicher Bericht über die soziale Situation der Türkei im allgemeinen und die Szene der Straßenkinder im besonderen.

Außenstellen des Instituts befinden sich in allen Provinzen der Türkei. Die Türkei gliedert sich in 81 Direktionen, vom Institut werden insgesamt 361 Geschäftsstellen bzw. Einrichtungen betreut. Das Klientel besteht aus alten und behinderten Menschen sowie Kindern. Im Einzelnen sind dies Einrichtungen wie: Behindertenheime, Altenheime, Kindergärten, Einrichtungen für Straßenkinder und Frauenhäuser.

Darüber hinaus werden weitere Aufgaben in der Türkei auch von den Kommunen erbracht. Das Institut für Sozialarbeit und Kinderschutz setzt hierbei die Standards. Derzeit werden 30.000 Menschen in Einrichtungen des Instituts betreut. Etwa 100.000 werden ambulant betreut, dieses vor allem auch infolge des Erdbebens.

Die demographische Situation in der Türkei ist durch eine besonders hohe Anzahl junger Menschen gekennzeichnet. So betrage die Altersgruppe 0 bis 18 Jahre 41% der Bevölkerung. Eine hohe Geburtenrate führe zu einem jährlichen Bevölkerungszuwachs von 7%.

Es können drei Kategorien von Wanderungsbewegungen der Bevölkerung unterschieden werden:
·         Auswanderung nach Deutschland
·         innerhalb der Türkei: Landflucht in die großen Städte
·         Einwanderung in die Türkei vor allem aus dem Irak und dem Iran (legaler oder illegaler Aufenthalt, darunter viele Kinder)

Ferner sei innerhalb der Sozialstruktur und der Familiensysteme ein großer gesellschaftlicher Umwandlungsprozess ersichtlich.
Aus all diesen Gründen ist die Lebenssituation von Kindern problematisch. Dennoch sei die Straffälligkeitsrate von Kindern und Jugendlichen eher gering.
Hierfür werden folgende drei Gründe als wesentlich benannt:
·         Die Familienstruktur und Anbindung des Kindes oder des Jugendlichen bleibt als stabilisierendes Element sehr lange erhalten.
·         Die Anbindung an die Familie bricht so gut wie nie ganz ab.
·         Die Verselbständigung findet im Regelfall erst nach dem 18. Lebensjahr statt.

Die Delikte im Falle von Straffälligkeit von Kindern und Jugendlichen (relative Häufung) sind
·         auf dem Land: Körperverletzung und Tötungsdelikte („Blutrache“, teilweise Fortbe-stehen von Feudalstrukturen)
·         in der Stadt: Diebstahl (zunehmender Drogenkonsum, Straßenkinder, Auflösung von traditionellen Familienstrukturen)

Derzeit gebe es 12 Einrichtungen des türkischen Staates für Straßenkinder. Hinzu kommen Einrichtungen von NGO’s. Ziel dieser Aktivitäten sei die Prävention von Straffälligkeit.
In den letzten drei Jahren habe man 31 „Kommunikations-Zentren“ (Gemeinwesenarbeit), 76 Jugend- heime und 97 Erziehungsheime eingerichtet.

Ist ein Kind straffällig geworden, versuche man es zu unterstützen und in die Familie zu reintegrieren. Das diesbezügliche Modellprojekt der „Stiftung zur Wiedergewinnung der Freiheit türkischer Kinder“ ist derzeit für die ganze Türkei mit einer Sozialarbeiterstelle (Emrah Kırımsoy) besetzt. Weitere Projekte dieser Art werden z.Zt. konzipiert, momentan stünden aber keine staatlichen Fördermittel für eine solche Arbeit zur Verfügung.
Auch wenn die Institutionen in der Türkei oft sehr klein sind, finden sie in der Öffentlichkeit starke Beachtung. Die Kommunikationszentren wurden erst vor 2½ Jahren gegründet.
Sozialarbeit in Gefängnissen war bislang nicht gewünscht, durch ein verändertes Bewusstsein werde aber mittlerweile ein größerer Handlungsbedarf gesehen.
Der Zugang zu Heimeinrichtungen erfolge auf Antragstellung der Eltern oder naher Angehöriger, aber auch durch Sicherheitsorganisationen wie Polizei oder andere öffentliche Stellen. Ohne die Zustimmung der Eltern ist im Regelfall ein Gerichtsurteil notwendig, ist Gefahr im Verzuge, so reicht vorerst die Unterschrift des Gouverneurs. Das Gericht kann Gutachten über die soziale Situation des Betroffenen einholen. Insgesamt ist die Präsenz der Sozialarbeit nicht mit der in Deutschland vergleichbar. Diesbe- zügliche Forderungen würden eher als Lobby-Arbeit für Arbeitsplätze von Sozialarbeitern abgetan, anstatt der Kennzeichnung eines drängenden Bedarfes an psychosozialer Versorgung.  

13:00 – 15:00              Ausbildungs- und Technologiezentrum „Metem“, Klaus Fischer

Besichtigung des Ausbildungs- und Technologiezentrums „Metem“. Informationen über das Schulbildungs- und Berufsausbildungssystem in der Türkei durch den Direktor Herrn Cemal Söyler. Diskussion über die Beschäftigungschancen von Rückkehrerjugendlichen.

Der Leiter (Müdür) Herr Cemal Söyler gibt uns zuerst einen allgemeinen Überblick über die Intentionen der Türkei zum Internationalen Fachkräfteaustausch. Er erklärt, dass es in der Türkei durchaus Bestrebungen zum Austausch im Jugendhilfebereich gibt.

So existieren bereits Kontakte zu deutschen Einrichtungen in Köln (Ökonomie-Institut), Berlin und Nordrhein-Westfalen, demnächst soll noch Hamburg hinzukommen. Es besteht hier die Möglichkeit, dass Jugendliche, die in Deutschland eine Ausbildung absolvieren, ein 5-wöchiges Praktikum in der Türkei machen können.

Im Anschluss daran stellt er die Einrichtung „Metem“ vor:
Metem ist eine Gründung von diversen Stiftungen, einer Stadtteilkooperative von Geschäftsleuten (hauptsächlich Kaufleuten) und des Erziehungsministeriums.
Aufgabe der Einrichtung soll nicht nur die Ausbildung von Lehrlingen sein, sondern hier findet auch die Berufsschule statt, da es dafür in der Türkei keine überörtlichen Träger gibt.
In Zusammenarbeit mit den Jugendstrafanstalten und den Besserungsanstalten habe man Ausbildungsgänge entwickelt, die auf drei Jahre angelegt sind und in gewisser Weise einen offenen Vollzug darstellen.
Der Weg eines straffällig gewordenen Jugendlichen aus der Strafanstalt über die Besserungsanstalt in das Lehrlingsheim sei allerdings nur möglich, wenn der Jugendliche kein gravierendes Fehlverhalten an den Tag lege.

Metem soll also eine Schnittstelle sein:
·         verschiedene Ausbildungsgänge im Bereich Verkauf
·         Fortbildungskurse (hier wird besonderer Wert auf möglichst modernes know-how gelegt)
·         festangestellte Lehrbeauftragte für die ständigen Angebote
·         Wohnbereich für Lehrer und Ausbilder (ist erforderlich, weil für spezielle Angebote Ausbilder und Lehrer befristet angestellt werden)

Ständiges Angebot sei ein dreijähriger Ausbildungsgang zum/r Verkäufer/in, sowie diverse Kurse in der Computerausbildung.
Metem ist nicht nur Ausbildungsstätte und Berufsschule, sondern auch Bildungsakademie mit Angeboten für die gesamte Türkei.
Das Ausbildungssystem umfasst nicht nur schulische Schwerpunkte, es werden verschiedenste Werkstätten vorgehalten, von deren guter Ausstattung wir uns bei einem Rundgang über das Gelände überzeugen konnten.
Die Kapazität der Einrichtung ist für unsere Begriffe sehr groß, es können bis zu 2.000 Probanden aufgenommen werden, die bisher erreichte Höchstzahl liegt allerdings bei 1.000, zum Zeitpunkt unseres Besuches wurden 300 Jugendliche betreut. Die Qualitätskontrolle werde über ISO 9000 zertifiziert.
Zum Abschluss wurde die Frage der Finanzierung angesprochen. Da die Eltern der Jugendlichen die Kosten für diese Lehrgänge meist nicht aufbringen können und es auch keine Stipendien gibt, werde die Finanzierung der Lehr- und Ausbildungsgänge sowie der Kurse von den Gründern von Metem übernommen.

  15:30 – 18:00              Besuch der Generaldirektion für Jugend und Sport, Peter Groß

Besuch der Generaldirektion für Jugend und Sport. Empfang durch den Direktor Herrn Toksal Başara und seinem engen Mitarbeiter Herrn Kemal Mutlu. Informationen über den Aufbau der Jugendarbeit in der Türkei, der Gründung von Jugendzentren und freien Trägern.
Die Reisegruppe ist zu Gast bei der Generaldirektion für Jugend und Sport in Ankara. Die Direktion ist angeschlossen an das Premierministerium und untersteht somit direkt der Staatsregierung. Wir werden zunächst empfangen vom stellvertretenden Direktor, Herrn Toksal Başara, und einem Amtsleiter, Herrn Kemal Mutlu, etwas später kommt dann auch noch der Direktor, Herr Demet Güneş, persönlich hinzu.
Zunächst wurde die Einrichtung vorgestellt. Aufgabe der Direktion sei die Erneuerung der türkischen Jugendarbeit gemäß der Erkenntnis, dass „die Türkei als kommende Angehörige der EU“ im Hinblick auf Jugendeinrichtungen einiges aufzuholen habe. Konkret bemühe man sich um die Organisation des Internationalen Jugendaustauschs im Freizeit- und Sportbereich (Sportcamps etc. ).
Der Direktor äußerte sich auch zufrieden über die Zusammenarbeit mit deutschen Institutionen seit dem entsprechenden Abkommen von 1994 in Form von Jugendaustauschaktivitäten und Fachtagungen zum Thema „Jugend“ in beiden Ländern.
Die Direktion sei vernetzt mit anderen Ministerien und Institutionen wie etwa dem türkischen Kinderschutzbund und unterstütze auch den Ausbau von Jugendeinrichtungen durch freie Träger. Beispielhaft erwähnt wurden etwa sogenannte Olympia-Jugendhäuser in sechs verschiedenen Städten mit umfangreicher Ausstattung.
Für unsere Anliegen, Unterstützung beim Aufbau einer Jugendhilfeeinrichtung in der Türkei für türkische Jugendliche aus Frankfurt bzw. bei der Finanzierung eines Gegenbesuchs türkischer Fachkräfte in Frankfurt schienen wir leider bei der Generaldirektion für Jugend und Sport an der falschen Adresse. Der Amtsleiter wies noch einmal auf die Aufgabenstellung der Generaldirektion hin, die Zuständigkeit für Austauschaktivitäten mit Jugendlichen im Freizeitzusammenhang. Er verwies in Bezug auf unsere Anliegen auf die Zuständigkeit anderer Ministerien wie zum Beispiel Justiz-, Familien- oder Erziehungsministerium. Grundsätzlich wurde die Bereitschaft bekundet, unsere Anliegen flankierend zu unterstützen, unmittelbare Kooperationspartner seien jedoch die anderen Ministerien. Eine finanzielle Unterstützung für den Gegenbesuch sei leider nicht möglich.

  18:30                          Treffen mit Kooperationspartner (Filiale Ankara) und einem freien Träger (soroptimist), der in der Frauenförderung tätig ist


Mittwoch, den 29. März 2000

  08:30 - 09.30             Besichtigung eines Grundstücks in Yenikayı

Besichtigung eines Grundstücks außerhalb von Ankara in Yenikayı. Dort soll zukünftig ein Resozialisierungsprojekt für Kinder und Jugendliche des Kooperationspartners entstehen. Vor Ort wurden uns die konkreten Pläne erläutert. Nach Fertigstellung der Einrichtung werde durchaus auch die Möglichkeit gesehen, dort türkische Jugendliche aus Frankfurt aufzunehmen gemäß des geplanten Projektes. Problematisiert wurde unsererseits, dass die Einrichtung doch sehr abgelegen sei.

  11:00 – 12:30              Besuch des Justizministeriums in Ankara, Harry Hubert

Empfang im Justizministerium in Ankara durch den Referatsleiter für das Gefängniswesen und den freigestellten Richter Herrn Necati Nursal (Sonderbeauftragter für Auslandskontakte). Wir erhalten einen generellen Überblick über das Jugendstrafrecht und diesbezügliche Reformbestrebungen in der Türkei.
Das 1979 verabschiedete türkische Jugendgerichtsgesetz (tJGG) trat 1982 in Kraft. Zuvor gab es einschlägige Vorschriften im türkischen Strafgesetzbuch (tStGB) von 1926. 1987 wurden die ersten Jugendgerichte eingerichtet. Heute gibt es in Ankara zwei, in Istanbul zwei und in Izmir und Trabzon (Schwarzmeerküste) jeweils ein Jugendgericht. Die Jugendgerichte sind vergleichbar mit den Jugendstrafkammern bei uns. Sie bestehen aus einem/einer vorsitzenden Richter/in und zwei Beisitzern/innen. 1997 wurde ein Reformentwurf zum tJGG eingebracht, über den aber bis heute leider noch nicht entschieden sei. Es sollen nicht nur neue Jugendgefängnisse gebaut werden, im Justizministerium ist eine eigene Abteilung für Jugend-strafrecht geplant.
Die UN-Kinderrechtskonvention wurde von der Türkei am 14.09.1990 unterzeichnet. Im Moment sei ein Pilotprojekt in Planung, welches die Zusammenarbeit zwischen dem Justizministerium, den Jugendgefängnissen, der Straffälligenhilfe und freien Trägern gesetzlich regeln soll. Das Justizministerium unterstützt nicht nur unser aktuelles Anliegen (Fachkräfteaustausch) sondern vor allem auch das zur Diskussion stehende Migrantenprojekt, welches wir vorgestellt hatten. Die Türkei würde einen regelmäßigen Erfahrungsaustausch und eine engere Zusammenarbeit sehr begrüßen, das eigene know-how könne dadurch verbessert werden. Der Türkei fehlen Fachkräfte, auch auf dem Gebiet der Jugendstrafrechtspflege, die vorhandenen könnten dadurch fort- und weitergebildet werden. Die türkische Bevölkerungsstruktur sei gekennzeichnet durch einen hohen Anteil junger Menschen. Deren Lebenssituation und Versorgungsstruktur sei aber z.T. sehr desolat. Um deren Lebensbedingungen positiv zu beeinflussen und ihnen günstige Zukunftsperspektiven zu eröffnen, müsse noch viel getan werden.
Die Kooperation zwischen dem Justizministerium und unserem Kooperationspartner wurde als besonders lobenswert hervorgehoben. Die Stiftung würde in ihrem Arbeitsfeld seit Jahren vorbildliche Pionierarbeit leisten. Eine enge Zusammenarbeit zwischen der Stiftung und der Stadt Frankfurt a.M. stoße auf große Zustimmung seitens des Justizministeriums.
Das Gefängnispersonal rekrutiere sich aus den Reihen der Gendarmerie, dort wo keine Jugendgefängnisse vorhanden seien, verbüße dieser Personenkreis verhängte Jugendstrafen in allgemeinen Justizvollzugsanstalten, dort jedoch in gesonderten Abteilungen. In Jugendgefängnissen sind neben den Sicherheitsbeamten (Gendarmen = paramilitärische Polizeieinheiten) auch Sozialarbeiter, Lehrer, Psychologen und Ärzte tätig. In der Türkei existieren nur wenig Kinderheime, insofern kann man auch nicht auf die Palette der Jugendhilfemöglichkeiten, wie sie in der BRD bestehen, zurückgreifen. Die Heimeinrichtungen, in die Kinder und Jugendliche im Alter von 12 – 18 Jahren durch Gerichtsurteil untergebracht werden (vergleichbar mit unserer früheren Fürsorgeerziehung), werden als „Besserungsanstalten“ bezeichnet. Geschlossene Einrichtungen für Kinder unter 12 Jahren gibt es nicht. In den Heimeinrichtungen bestehen grundsätzlich interne und externe Schul- und Berufsausbildungsmöglichkeiten.
Die Strafmündigkeit liegt in der Türkei bei 12 Jahren. Wer sein 12. Lebensjahr vollendet hat ist somit strafmündig. Straffällig gewordene Kinder (çocuk) im Alter von 12 bis 15 Jahren haben sich vor dem Kindergericht (çocuk mahkeme) zu verantworten. Im Falle der Verurteilung erhalten sie die Hälfte der Strafe, die ein Erwachsener im vergleichbaren Falle zu erwarten hätte. Gegen sie darf weder die Todesstrafe ausgesprochen werden, noch darf der Strafrahmen sieben Jahre übersteigen. Für straffällig gewordene Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren sind Jugendgerichte (gençlik mahkeme) zuständig, dies sind besondere Abteilungen bei den allgemeinen Strafgerichten. Für diese Jugendlichen wird im Falle einer Verurteilung das Strafmaß des allgemeinen StGB um 1/3 gekürzt. Junge Menschen im Alter von 19 bis 20 Jahren stehen infolge einer Straffälligkeit vor den allgemeinen Strafgerichten, sie werden wie Erwachsene behandelt, bekommen aber je nach Einzelfall "Sonderkonditionen“ eingeräumt. Jugendstrafe kann nur nach Erstellung eines entsprechenden psychologischen Gutachtens verhängt werden. Die Vollstreckung von Jugendstrafen unter drei Jahren Dauer werden generell zur Bewährung ausgesetzt. Nach Verbüßung von 2/5 der Strafe kann der Strafrest ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt werden. Nach Verbüßung der Strafe, Beendigung der Haftzeit besteht ein Anrecht auf Fortsetzung einer begonnenen Ausbildung. Geistig Behinderte unterliegen keiner Strafverfolgung. Wegen der im allgemeinen noch gut funktionierenden Familienstrukturen (soziale Kontrolle) sei die Jugendkriminalität in der Türkei im Vergleich zu anderen Ländern eher gering.

  13:00 – 15:00              Besuch der „Jugendbesserungsanstalt“ Keciören, Lothar Hochgesand

Besichtigung der sogenannten „Besserungsanstalt“ Keçiören in Ankara, einer geschlossenen Heimeinrichtung in Begleitung des Leiters der Einrichtung Herrn Vedat Engin und Herrn Nursal vom Justizministerium.

Nach dem Besuch des Justizministeriums wurden wir von dem Jugendrichter, der uns bereits im Ministerium informiert hatte, in die Besserungsanstalt begleitet und nach der Begrüßung durch den Leiter der Anstalt zum Mittagessen eingeladen und über die Einrichtung informiert.
In der Anstalt befinden sich männliche Jugendliche im Alter von 12 bis 18 Jahren die straffällig geworden sind. Diejenigen, die in der Anstalt eine Ausbildung absolvieren, können jedoch bis zum 21. Lebensjahr in der Besserungsanstalt verbleiben und müssen nicht in den Erwachsenenvollzug.

Die Anstalt, die 1937 auf Empfehlung von Staatspräsident Atatürk gebaut worden war, befand sich ursprünglich in Edirne. 1939 erfolgte ein Umzug nach Kızılcahamam in der Nähe von Ankara. 1941 erfolgte der Umzug an den jetzigen Ort nach Keçiören im Bezirk Ankara. Die Anstalt befindet sich auf einem 150.000 qm großen Gelände und ist unter dem Namen „Jugendbesserungsanstalt Ankara“ bekannt.
Das Hauptziel der Einrichtung ist die Rehabilitation jugendlicher Straffälliger und die Unterstützung bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Wenn soziale, kulturelle und erzieherische Programme entwickelt werden, so sind das Alter der Straffälligen, die sozialen Hintergründe und die besonderen Bedarfslagen der Betroffenen sorgfältig zu berücksichtigen. Psychologische und medizinische Hilfen werden ebenfalls geleistet.
Um die erwähnten Programme durchführen zu können, ist eine große Anzahl administrativer und technischer Mitarbeiter in der Anstalt beschäftigt. Das Personal umfasst die Heimleitung nebst Stellvertretung, einen Arzt, Zahnarzt, Lehrer, Psychologen, Sozialarbeiter, Krankenschwester, Sicherheitspersonal sowie technische und hauswirtschaftliche Mitarbeiter.

Es gibt eine Besucherregelung für Angehörige an Sonntagen und an religiösen Feiertagen von 10:00 bis 16:00 Uhr. Telefonate und Briefkontakte mit Familienangehörigen und Freunden können jederzeit geführt werden.
Ausgang und Urlaubsregelung: Bei ¼ Strafverbüßung drei mal pro Jahr für jeweils 10 Tage, bei 2/5 der Strafverbüßung und guter Führung evtl. Entlassung durch den Richter unter Auflagen.
Bildungsangebote/Schulbildung: Wenn möglich weiterer Besuch der staatlichen Schulen, Ergänzungskurse in der Einrichtung (Stützkurse). Für Analphabeten werden spezielle Grundbildungskurse angeboten. Für Anstaltsinsassen die keine herkömmliche Schule besuchen können, werden Fernkurse angeboten.
Insassen, die vom psychosozialen Dienst für Berufsbildungsmaßnahmen vorgeschlagen werden, besuchen das Berufsbildungszentrum. Einmal in der Woche ist theoretischer Unterricht. Die Ausbildung wird durch staatliche Mittel gefördert und es besteht Versicherungsschutz.
Weitere berufliche Bildungsmaßnahmen für diejenigen, die nur kurz in der Anstalt verbleiben, werden von verschiedenen Organisationen angeboten, wie z.B. Bekleidungsherstellung, Weben, Elektro-Handwerk, Lederverarbeitung.

Von der Anstalt werden folgende soziale, kulturelle und sportliche Aktivitäten organisiert.
·         Theater: Jedes Jahr Probe eines Stücks, Aufführung in der Anstalt und an verschiedenen Orten in Ankara. Tournee durch andere Einrichtungen in verschiedenen Städten.
·         Volkstanz und Musikkurse: Erlernen von Volkstänzen aus verschiedenen Regionen der Türkei und Erlernen von zumindest einem Musikinstrument.
·         Handwerkskurse: Das Ziel ist eine sinnvolle Freizeitgestaltung und Erweiterung der handwerklichen Fähigkeiten.
·         Sport: Fußball, Basketball und Volleyball. Wettbewerbe der verschiedenen Teams der Anstalt, auch mit Mannschaften von außerhalb.
Nach der Entlassung bemühen sich ehrenamtlich tätige Organisationen um Arbeitsplätze und geeigneten Wohnraum.

  15:30 – 17:00              Museum für anatolische Zivilisation (Nationalmuseum)

 
  Donnerstag, den 30. März 2000

  10:00 – 12:30             Besuch eines der beiden Kinder- und Jugendgerichte in Ankara, Teilnahme an mehreren Hauptverhandlungen, Erfahrungsaustausch mit KollegInnen des Sozialdienstes, Heinke Vogel

Besuch des 1. Kinder- und Jugendgerichts in Ankara, Teilnahme an mehreren Hauptverhandlungen, Diskussion mit dem vorsitzenden Richter und den beiden beisitzenden Richtern der Jugendkammer sowie einer Staatsanwältin, anschließend Erfahrungsaustausch mit Kolleginnen und Kollegen des Sozialdienstes des Gerichtes.
Wir werden vor den Hauptverhandlungen vom vorsitzenden Richter freundlich empfangen und bekommen selbst hier einen Tee serviert. Man ist erfreut über unseren Besuch, will Fragen beantworten, und es wird die Möglichkeit angeboten, anschließend mit Sozialarbeitern und Psychologen ein Gespräch zu führen.
Einleitend wird uns berichtet, dass die Türkei die Konvention für Kinderrechte unterschrieben hat, und dass es im Grundgesetz der Türkei Vorschriften für die Behandlung von Kindern gibt.
Zur Zeit gebe es sechs Jugendgerichte in der Türkei, Jugendrecht werde aber auch an anderen Gerichten angewendet. Verhandelt würden Delikte wie z.B. Diebstahl, Körperverletzung, Vergewaltigung, Nötigung, Raub, Betrug, Sachbeschädigung, fahrlässige Tötung, Mord.

Erst seit 1982 findet das Jugendgerichtsgesetz Anwendung. Allerdings sind Grenzen gesetzt durch die wenigen vorhandenen Stellen für Sozialarbeiter und Psychologen. Am Kindergericht in Ankara gibt es einen Psychologen, einen Pädagogen und einen Sozialarbeiter. Sie werden nur auf Anforderung des Gerichts tätig. Das passiert bei jährlich ca. 500 Fällen jedoch nur fünf mal. Der Richter entscheidet, ob ein psychologisches Gutachten oder ein Bericht des Sozialarbeiters angefordert wird. Eine Teilnahme an der Hauptverhandlung und einen mündlichen Vortrag wie bei uns gibt es aber nicht. Die geringe Anzahl von Vereinen und Stiftungen, die Jugend- und Sozialarbeit in der Türkei betreiben (es gibt so gut wie keine staatliche Sozialarbeit), wird uns damit erklärt, dass der Zusammenhalt der Familie in der Türkei noch sehr groß sei, und häufig bei Problemen und Konflikten auch Verwandte und Nachbarn eingreifen und unterstützen (hohe soziale Kontrolle und familieninterne Konfliktbewältigung). Der Gerichtssaal war hell, freundlich, mit Blumen vor den Fenstern. Die drei anwesenden Richter saßen auf einem Podest. Sie trugen schwarze Roben mit steifem, grün-rotem Kragen.
Etwas unterhalb des Richters saß die Protokollführerin, die mit einer manuellen, sehr lauten Schreibmaschine rasend schnell alles aufnahm. Der Richter war dadurch zeitweise schwer zu verstehen.
Weiterhin nahmen teil eine Staatsanwältin, der Angeklagte und sein Verteidiger, der für Jugendliche immer von der Anwaltskammer gestellt wird.
Der Gerichtsdiener im dunklen Anzug sorgte nicht nur für einen ordnungsgemäßen Ablauf, sondern auch für „gutes Benehmen“. Er gibt Zeichen zum Aufstehen, gerade stehen etc.
Der Jugendliche stand vor dem Richter, oder besser gesagt vor der Schreibmaschine, während des gesamten Verfahrens. Die Kinder und Jugendlichen kamen überwiegend in einem braunen Sakko gekleidet.
Überraschend stellten wir fest, dass sich die Richter nicht zur Beratung zurückziehen. Die beiden „Beisitzer“ hatten keine für uns wahrnehmbare Funktion. Der vorsitzende Richter befragte kurz und knapp den Jugendlichen und dessen Verteidiger. Es wurden nur wenige Sätze gewechselt. Es war auch nicht erkennbar, dass man sich mit der Lebenssituation des Jugendlichen befasste. Ebenfalls war schwer zu erkennen, wie der Jugendliche durch seinen Verteidiger vertreten wurde. Eltern dürfen an der Hauptverhandlung teilnehmen.

14:00 – 15:30              Ausbildungs-/Therapiezentrum für Kinder, Günay Özyilmaz

Nach einer kurzen Vorstellungsrunde stellte ein Mitarbeiter des Zentrums die Einrichtung vor. Einrichtungsträger ist der Gouverneur der Stadt Ankara. Die Einrichtung gewährt Drogentherapien und ist zugleich Ausbildungszentrum für drogensüchtige Kinder und Jugendliche. Sie ist für 50 Plätze konzipiert.
Die Türkei befindet sich seit den 50iger Jahren in einer Phase besonderer gesellschaftlicher Veränderung. Da keinerlei Maßnahmen für die Schaffung von geeigneten Unterkünften und den Ausbau sozialer Infrastruktur für in die Stadt abgewanderte Landbevölkerung getroffen wurden, ist die Lebensqualität der Zugewanderten schlecht. So entstanden und entstehen Slumviertel, sogenannte "geςekondu" (über Nacht gebaute Häuser).
Durch den ständigen Anstieg der in die Städte gewanderten Landbevölkerung vermehrt sich auch die Anzahl derjenigen Menschen, die sich zwischen Dorf- und Stadtkultur hin und her gerissenen fühlen. Die Kinder, deren Familien aus sozioökonomischer Sicht der Unterschicht zuzurechnen sind, werden zur Arbeit angehalten, um so zum kärglichen Familieneinkommen beizutragen.
Durch den oft vorhandenen autoritären Erziehungsstil der Eltern bleiben Kinder nicht von Gewalt verschont. Sie laufen von zu Hause weg und brechen jeglichen Kontakt zu ihren Eltern ab.
Dadurch werden sie mittel- aber auch obdachlos. So beginnt die Karriere von Straßenkindern. Die Kinder, die auf der Straße leben, sind meist noch sehr jung. Kinderarbeit wiederum verhindert den Schulbesuch, beeinträchtigt die Gesundheit und damit die körperliche Entwicklung. Diese Kinder werden täglich mit dem Gebrauch von Drogen konfrontiert und sind selbst dem Risiko einer Drogenabhängigkeit ausgesetzt. Kindheit sei die wichtigste Zeit für körperliche und geistige Entwicklung. Die Gesellschaft habe die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Kinder, die zu Hause keine Liebe und Fürsorge genießen, nicht verwahrlosen und kriminell werden, sondern entsprechende Betreuung erhalten. Aus diesem Grund wurde unter der Aufsicht des Gouverneurs der Stadt Ankara im Jahre 1998 diese Einrichtung gegründet.
Die Einrichtung richte sich an Drogen konsumierende Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 12 und 18 Jahren. Diese Kinder und Jugendlichen schnüffeln, inhalieren Verdünnung und/oder konsumieren Alkohol.
Statistische Zahlen darüber werden nicht erhoben, insofern liegen auch keine gesicherten Erkenntnisse über Drogenkonsum vor. Drogenabhängigkeit (z.B. Schnüffeln von Klebstoff) ist jedoch häufig zu beobachten.
Es gibt kein gesetzliches Verbot, chemische Produkte oder Gebrauchgegenstände des Alltages zu erwerben. Es ist auch für Kinder sehr leicht an Ersatzstoffe heranzukommen. Zu diesen Produkten zählen:

·         diverse Kosmetika (z.B. Deodorants)
·         flüssige Klebstoffe (wie Leim, Uhu, Plastik, Sprays)
·         parfümierte Bleistifte, Radiergummi oder andere Stifte

Zur Zielgruppe gehören drogenabhängige Kinder und Jugendliche zwischen sieben und 19 Jahren, überwiegend halten sich Minderjährige im Alter von 9 bis 12 Jahren in der Einrichtung auf, 70 bis 80% davon sind Jungen.
Um die Versorgung und Betreuung der Kinder und Jugendlichen bemühen sich 31 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Krankenschwestern, Pfleger, Erzieher, Lehrer, Wachpersonal).

Die Kinder und Jugendlichen suchen freiwillig dieses Zentrum auf. Sie werden auf dieses Zentrum aufmerksam durch:
·         die Familie
·         Kinderheime
·         Schulen
·         örtliche Stellen des Kinderschutzbundes
·         Kinder- und Jugendgerichte

Das Betreuungsangebot der Einrichtung biete
·         einen körperlichen Entzug mit emotionaler und sozialer Begleitung
·         pflegerische und medizinische Versorgung
·         Betreuung während der schulischen Ausbildung, Stabilisierung des bisherigen Schulbesuchs
·         Hilfe bei der Berufswahl und Suche nach einem Arbeitsplatz
·         regelmäßigen Kontakt zu Ausbildungsbetrieben
·         vollstationäre Maßnahme mit Bereitstellung von Wohn- und Lebensraum und Vollverpflegung
·         Vollzeitbetreuung im Schichtdienst rund um die Uhr
·         besonders intensive Familienkontakte, wenn eine Rückführung in das frühere familiäre Umfeld vorgesehen ist
·         Entlassungsvorbereitung und begleitende Hilfen nach der Entlassung

Die Stationäre Behandlung dauert durchschnittlich einen Monat. In Ausnahmefällen können sich auch längere Aufenthalte ergeben.

Der Tagesablauf gestalte sich wie folgt:   ·         08:00                          Aufstehen
·         08:00 – 08:30              Aufräumen
·         08:30 – 09:30              Frühstück
·         09:30 – 10:00              Visiten
·         10:00 – 10:30               Vollversammlung
·         10:30 – 12:30               Tätigkeit in der Werkstatt, ambulante Behandlung, Versammlung
·         12:30 – 13:30               Mittagessen
·         13:30 – 15:30               Tätigkeit in der Werkstatt
·         15:30 – 16:30               Einzelfallbesprechung, Gruppentherapie (Dienstags)
·         16:30 – 17:00               Ablösung des Wachdienstes
·         17:00 – 18:00               Pause
·         18:00 – 19:00               Abendessen
·         19:00 – 21:30               Sozialstunde
·         21:30                           Nachtruhe
  Ziel der Einrichtung sei es, Kinder und Jugendlichen aus sozial besonders degenerierten Gruppen herauszulösen und ihnen über schulische und berufliche Orientierung einen Weg in ein positives soziales Umfeld und zur gesellschaftlichen Integration aufzuzeigen.
Die Einrichtung habe einen Versorgungsauftrag für die gesamte Türkei, d.h. sie ist die einzige Einrichtung dieser Art in der Türkei.
Diese Maßnahmen seien keineswegs ausreichend, denn das Problem habe inzwischen für die Gesellschaft bedrohliche Ausmaße angenommen.
  16:00 – 18:00                       Besuch der Hacettepe-Universität in Ankara Fachbereich Sozialarbeit, Evi Ziegler, Roswitha Mittenzwei

Empfang in der Hacettepe-Universität Ankara Fachbereich Sozialarbeit (Hacettepe Üniversitesi Sosyal Hizmetler Yüksekokulu): Die Gruppe wurde begrüßt durch die Direktorin Fr. Prof. Dr. Beril Tufan, die auch einen ausführlichen Einblick in den Studiengang der Sozialarbeit in der Türkei und die (eingeschränkten) Möglichkeiten dieses Berufsstandes vermittelte. Anschließend fand eine engagierte Diskussion mit den Professoren Dres. Emine Akyüz, Gönül Erkan, Ilhan Tomanbey statt. Zu dem Treffen waren alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts und interessierte Gäste eingeladen.
In einer Vorstellungsrunde wurden sehr ausführlich die Arbeitsgebiete und Veröffentlichungen der einzelnen Hochschullehrer vorgestellt. Zur allgemeinen Information über den Fachbereich wurde uns eine Liste der bisherigen Veröffentlichungen überreicht.
Allgemeine Informationen zur Ausbildung von Sozialarbeitern:
Von insgesamt 72 Universitäten in der Türkei ist die Universität in Ankara die einzige mit einem Fachbereich Sozialarbeit. Seit 1961 werden in der Türkei Sozialarbeiter ausgebildet, zunächst ähnlich wie in Deutschland an einer Fachschule. 1982 wurde dann der Fachbereich Sozialarbeit an der Hacettepe-Universität in Ankara etabliert.
Zugangsvoraussetzung zum Studium der Sozialarbeit ist der Abschluss eines Gymnasiums plus ein Jahr Studium der englischen Sprache. Das Studium der Sozialarbeit dauert vier Jahre und schließt Praktika mit ein.
Im Moment werde schwerpunktmäßig praktisch gearbeitet im Bereich Erdbebenopferhilfe (Izmit). Auch die Dozenten sind in diese Arbeit involviert. Zuvor wurden Dozenten und Studenten für den Umgang mit den traumatisierten Erdbebenopfern und deren Helfern ausgebildet. Bei der Studienplatzvergabe wird auf eine gleiche Verteilung für männliche und weibliche Studenten geachtet (50% zu 50%).
Bei einem späteren Gespräch in Istanbul erfuhren wir, dass von den bisher insgesamt 3.000 ausgebildeten Sozialarbeitern der Großteil arbeitslos und nur ein kleiner Teil an der Universität im Bereich Forschung und Lehre tätig ist. Nur ein geringer Teil der Sozialarbeiter sei bei Nichtregierungsorganisationen (NGO’s) untergekommen. Im öffentlichen Dienst gibt es so gut wie keine Planstellen für Sozialarbeiter.
Schließlich wurde von Harry Hubert und Lothar Hochgesand das Jugendhilfeprojekt für Migranten vorgestellt. Von den Universitätsmitarbeitern wurde großes Interesse daran bekundet.
Fortsetzung der Diskussion in einem Lokal in der Nähe der Zitadelle.

 
Freitag, den 31. März 2000

  10:00 – 11:00              Inlandsflug Ankara – Istanbul


    Samstag, den 01. April 2000

  10:00 – 13:30              Kontakt mit Kooperationspartner in Kadıköy/Istanbul, Gespräch mit Fachkräften, Dia-Show

Erster Kontakt mit dem Kooperationspartner in Kadıköy/Istanbul: Offizielle Begrüßung durch die Vorsitzende der Stiftung Frau Rechtsanwältin Güney Haştemoĝlu, nach der obligatorischen Vorstellungsrunde folgte eine Darstellung der Geschichte der Stiftung und ein Einblick in die konkrete Resozialisierungsarbeit, anschließend Diskussion mit Fachkräften der Stiftung und eines Jugendrichters, Herrn Günay Kumru. Vorstellung einer durch die Stiftung selbstgefertigten Dia-Show über das Jugendstrafverfahren.

  Erfahrungsaustausch über die psychosoziale Versorgung von straffälligen Kindern und Jugendlichen/Aus- und Fortbildung von psychosozialen Fachkräften in der Türkei mit Frau Prof. Inci User und Frau Prof. Meltem Kora, Istanbul, Roswitha Mittenzwei

Weiterer Erfahrungsaustausch in den Räumen der Stiftung zur Resozialisierung von straffälligen Jugendlichen: Frau Dr. Meltem Kora (Kinder- und Jugendpsychiaterin) und Frau Prof. Dr. Inci User berichteten anhand ihrer Arbeit und ihres Ausbildungs- und Berufsweges über die psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen in der Türkei.
In der Türkei gebe es – verglichen mit Deutschland – keine institutionell eingebundene psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen, auch nicht speziell für straffällige Kinder und Jugendliche. Zunehmend beginnen jedoch insbesondere in Ankara, Istanbul und Izmit private Initiativen, NGO’s als auch Einzelpersonen, sehr engagiert auf diesem Gebiet zu arbeiten. Darüber hinaus habe sich seit dem Erdbeben zu Beginn dieses Jahres unter Fachkolleginnen und –kollegen in den öffentlichen Versorgungsstellen und entsprechenden Regierungsstellen ein Bewusstsein für die Notwendigkeit psychosozialer Versorgungsstrukturen etabliert.
Es mangele jedoch an institutionellen Verankerungen, finanziellen Mitteln und in Folge dessen an klar definierten Arbeitsaufträgen, Arbeitsstellen sowie einer entsprechenden Lobby. Frau Prof. Kora stellte sich als Kinder- und Jugendpsychiaterin vor. Bis vor zwei Jahren arbeitete sie in einer Universitäts-Kinderklinik in Istanbul. Danach habe sie sich als Kinder- und Jugendpsychiaterin in freier Praxis niedergelassen.

Ihren Arbeitsbereich beschreibt sie überwiegend kritisch:

Bezüglich der psychosozialen Versorgung/Betreuung von straffälligen Jugendlichen (12 – 20 Jahre) betrachtet sie die Trennung von Justiz- und Gesundheitssystem als sehr negativ. Es gebe (in Ankara und Istanbul) in den Kliniken eigene Abteilungen für Kinder und Jugendliche, die ausschließlich die Justiz konsiliarisch bedienen und forensische Begutachtungen vornehmen. Trotz beidseitig vorhandener Femdsprachkenntnisse (deutsch-türkisch, türkisch-deutsch) konnten im Gespräch einige Fragen nicht zufriedenstellend geklärt werden:
·         die Begutachtungspflicht bei straffälligen Jugendlichen, der die Praxis von nur 3% durchgeführten Begutachtungen gegenübersteht
·         die Frage der Straffälligkeit bei Kindern und Jugendlichen als auch der Versorgung des Kindes und der Familie des Kindes nach dem Gerichtsverfahren
·         was passiert bei einem 8-jährigen Kind, das getötet hat (eventuell im Auftrag Erwachsener, Familienehre)?
·         es gibt Behandlungsbedarf, möglicherweise sogar einen gesetzlichen Auftrag, aber es existieren weder geeignete Maßnahmen noch passende Einrichtungen hierfür.

Die Versorgung von verhaltensgestörten, hyperaktiven, aggressiven Kindern sei mehr als unbefriedigend, denn die einzelnen Berufsgruppen arbeiten eher neben- als miteinander. Ob die psychosoziale Situation eines Kindes oder seine seelische, körperliche und soziale Entwicklung hinreichend erfasst werde bzw. eine fachkompetente Hilfe nötig sei, hänge ab vom persönlichen Engagement des Mediziners in der Klinik, des Richters im Gerichtsverfahren oder des Lehrers in der Schule.
Erst die Erfahrung der Versorgung der Bevölkerung nach dem Erdbeben in der Türkei 1999 setzte ein professionelles Nachdenken in Gang. So wird inzwischen die Notwendigkeit einer besonderen Unterrichtung von traumatisierten Kindern in der Schule gefordert und es wurden schon sogenannte Crash-Kurse für Lehrer im Umgang mit diesen Kindern durchgeführt. Ferner gebe es inzwischen ein Projekt, in dem psychologische und sozialpädagogische Kenntnisse über die Entwicklung traumatisierter Kinder vermittelt werden.

  13:30 – 15:00              Kinderhaus Yeldeĝirmeni, Andreas Elm

Besuch des Kinderhauses Yeldeĝirmeni, Schilderung der Situation der Straßenkinder und der Arbeit der NGO’s mit diesem Klientel. Besichtigung des Kinderhauses und Darstellung der physischen und psychischen Versorgung und Integration dieser Kinder in die türkische Gesellschaft.
Seit den fünfziger Jahren spreche man von „Brücken“- bzw. Straßenkindern (sie schliefen ursprünglich unter Brücken) und man begann, sich ihrer anzunehmen. Ein wesentlicher Anstieg wurde in den achtziger Jahren deutlich. In dieser Zeit begannen erste NGO’s mit ihrer Arbeit. Die Straßenkinder stammen meist aus nicht mehr vollständigen Herkunftsfamilien. Fast alle Kinder „schnüffeln“. Dies verursache Hirnschäden, Herz- und Kreislaufschwäche sowie Lungenschäden und Kehlkopfveränderungen.
Das Kinderhaus Yeldeĝirmeni wurde 1998 eingerichtet. Es widmet sich vernachlässigten z.T. elternlosen Kindern. Es wurde gemeinsam von sechs NGO’s gegründet (Verbundsystem). Ziel ist die physische und psychische Versorgung und Integration der Kinder in die Gesellschaft.
Bevor die Kinder ins Heim kommen, durchlaufen sie eine Anlaufstation in einem anderen Stadtteil. Dort findet eine erste Versorgung der Kinder statt. Es wird überprüft, ob Drogenabhängigkeit vorliegt. In diesem Fall kommen die Kinder und Jugendlichen in die Psychiatrie zum Entzug, der etwa 3 ½ Monate dauert. Es gibt „streetworker“, die Kinder auch nachts auf der Straße ansprechen oder sie gezielt aufsuchen. Sie werden meist von der Polizei begleitet. Um das Vertrauen der Straßenkinder zu gewinnen, sind oft auch ehemalige Straßenkinder dabei. Die Kinder bekommen dann eine Telefonnummer und können sich freiwillig bei der Anlaufstation melden. In der Anlaufstation werde eine medizinische Versorgung vorgenommen und evtl. therapeutische Hilfen angedacht sowie der familiären Hintergrund erfasst. Es wird versucht, Perspektiven anzubieten, wenn die Kinder nicht zurück zur Familie können (wg. sexuellem Missbrauch u.ä.). Die Gründe für das Weglaufen der Kinder sind verschieden, eine entsprechende Evaluationsstudie ist beabsichtigt.
In der Heimeinrichtung lernen die Kinder Lesen und Schreiben sowie handwerkliche Arbeit. Die beschriebenen Einrichtungen werden von unterschiedlichen NGO’s betrieben. Die Finanzierung erfolgt über den staatlichen Kinderschutzbund, die Provinzregierung und den Verein zur Förderung von Straßenkindern (Mischfinanzierung).
Für die Heimeinrichtung selbst erfolgt eine pauschale Finanzierung der Personalkosten. In die Kalkulation fließt die Anzahl der tatsächlich betreuten Kinder ein. Der Einrichtung stehen auch ehrenamtliche Kräfte zur Betreuung und für Aktivitäten zur Verfügung.
Das Personal bestehe aus: 15 Personen für Gebäudereinigung, Hauswirtschaft und Küche; 9 Psychologen und Pädagogen sowie 8 Verwaltungsangestellten.
Die maximale Belegungszahl betrage 60. Pro Jahr werden etwa 300 Kinder betreut, dauerhaft sind etwa 30 bis 60 Plätze belegt.
Die Verweildauer betrage zwischen einem Tag und zwei Jahren, im Durchschnitt aber drei bis sechs Monate, bis zu einer Rückführung der Kinder in die Herkunftsfamilie. Kommt es zu einer Rückführung, werden die Kinder über einen gewissen Zeitraum weiter in der Familie nachbetreut.
Zeki, 23 Jahre alt, war als ehemaliges Straßenkind selbst zwei Jahre in dieser Einrichtung untergebracht, spricht nun die Kinder zweimal wöchentlich, Montag- und Donnerstagabend, als Mitarbeiter auf der Straße an, um sie für eine Unterbringung in der Einrichtung zu motivieren. Er lief als Zehnjähriger infolge der Wiederverheiratung seines Vaters von zu Hause weg und lebte sieben Jahre lang auf der Straße. Zu seiner Clique gehörten 40 Kinder, die gut organisiert waren. So war z.B. festgelegt, wer sich um das Essen für alle zu kümmern hatte. Innerhalb der Jugendbande gab es einen festgelegten Verhaltenskodex und Strafen, so bekam man z.B. für die sexuelle Misshandlung eines Gruppenmitgliedes einen Messerstich in den Bauch. Die Gruppe verteidigte die Mitglieder nach außen, Spione anderer Gruppen wurden bekämpft.
Auch „Mehmet“ aus München, der in der Türkei mit seinem richtigen Namen Muhsin genannt wird, war ein Tag in dieser Einrichtung untergebracht.

  17:30 – 19:00              Strassenkinderzentrum „Umut Çocukları Ilkadım Istasyonu“, Peter Groß

Unser nächster Programmpunkt ist der Besuch des Straßenkinderzentrums „Ilkadım“. Das Straßenkinderzentrum ist eine erste Anlaufstelle des Kinderschutzbundes für die Arbeit mit Straßenkindern in der Altersgruppe von 6-18 Jahren. Jüngere Kinder werden über die Provinz- regierungen in Obhut genommen, für über 18jährige sind andere Einrichtungen zuständig.
Das Personal der Einrichtung umfasst einen Direktor, drei Sozialarbeiter, einen Arzt, zwei Köche, eine Krankenschwester sowie zwei Nachtwachen, die sogenannten „Nachtpapas“.
Der Kontakt der Kinder und Jugendlichen mit dem Straßenkinderzentrum entstehe im Wesentlichen über drei Wege. Entweder werden sie von aufsuchenden Sozialarbeitern auf der Straße „aufgelesen“ und in die Einrichtung gebracht, oder von der Kinderschutzabteilung der Polizei vermittelt oder sie kommen von selbst. In der Regel stehen die Kinder und Jugendlichen unter dem Einfluss von Rauschmitteln wie etwa Klebstoff. Im Straßenkinderzentrum bekommen sie zunächst Essen, werden gereinigt, gegebenenfalls medizinisch versorgt und registriert. Bei längerem Hilfsbedarf bleibe das Kind bis zu  einer Woche im Straßenkinderzentrum und werde dann in eine Langzeiteinrichtung weitervermittelt. Die Woche diene nun der Bestandsaufnahme der Lebensproblematik. Zunächst werde versucht, Kontakt zur Familie aufzunehmen. Bei eventuellen finanziellen Problemen der Familie könne ein Antrag auf Unterstützung an die jeweilige Provinzregierung gestellt werden. Weitere Gründe werden erforscht und bearbeitet. Es gebe auch Kinder, die nicht wieder zu ihren Familien zurückkehren wollen, oder Familien, die aus verschiedenen Gründen die Rückkehr ihrer Kinder ablehnen. Dieses Problem tauche häufig auf, wenn die Eltern sich getrennt und neue Familien gebildet haben. Dann würden oft die Kinder aus erster Ehe als zweitrangig behandelt und abgewiesen.
Als weiteres großes Problem erscheint der Zusammenbruch der traditionellen Familienstruktur durch die Landflucht. So verlassen immer mehr Familien aus dem Osten bzw. Südosten der Türkei aus ökonomischen aber auch politischen Gründen (Kurden) ihre angestammte Heimat und versuchen, in den großen Städten Fuß zu fassen. Auf diese Weise entstehen in den größeren Städten schnell anwachsende Elendsviertel (geçekondu) und die Hoffnung auf eine Verbesserung der ökonomischen Lage verwirklicht sich nicht. Die Enttäuschung belastet die Familien sehr, besonders aber die Kinder als deren schwächste Glieder.
Das Straßenkinderzentrum versucht hier zu vermitteln gemäß der Prämisse, dass Kinder eigentlich am Besten in ihrer Familie aufgehoben seien. Erweist sich dies als unmöglich, gewährt man den Kindern Unterkunft, da dies auf jeden Fall besser ist als ein Leben auf der Straße. Trotzdem wird auch immer weiter versucht, die Familie in irgendeiner Form bei der Lösung der Probleme zu beteiligen.
Über die tatsächliche Anzahl der Straßenkinder in Istanbul gibt es keine konkreten wissenschaftlichen Erkenntnisse. So seien derzeit ca. 4.000 – 5.000 Straßenkinder registriert, Schätzungen gehen von bis zu 7.000 aus. Das Straßenkinderzentrum „Ilkadım“ habe in den letzten zwei Jahren in ihrer Einrichtung ca. 350 Kinder registriert und mit ihnen gearbeitet.

 
Sonntag, den 02. April 2000

10:00 – 13:00         Gespräch mit der Vorsitzenden der Stiftung (möglicher Kooperationspartner für das Projekt), Frau Rechtsanwältin Güney, in Kadıköy/ Istanbul, Evi Ziegler

Harry Hubert benennt zunächst noch einmal die Ziele unserer Reise: Soziale Infrastruktur der Türkei kennen lernen, Fachkräfteaustausch, Vorplanung eines Jugendhilfeprojektes in der Türkei. Sodann berichtet Frau Güney Haştemoĝlu, Rechtsanwältin und 1. Vorsitzende, zur Geschichte des Vereins und zur Arbeit der Stiftung:
Der Verein begann seine Arbeit mit Kindern im Gefängnis, als es noch keine gesonderten (Untersuchungs-)Haftanstalten für Kinder gab und die Kinder in den Haftanstalten für Erwachsene einsaßen. Die Haftbedingungen waren sehr schlecht: Die Kinder waren in schlechtem gesundheitlichen Zustand, schlecht gepflegt – Krätze und Läuse waren an der Tagesordnung. Die Lehrer, die die Kinder unterrichteten, waren meist Religionslehrer (imam). Die Straffälligkeit der Kinder wurde moralisch bewertet, die jungen Gefangenen wurden als minderwertig und sündig eingestuft und entsprechend schlecht behandelt. Wegen der schlechten Haftbedingungen kam es häufig zu Ausschreitungen und Zerstörungen, dies wiederum hatte Haftverschärfungen zur Folge.
Damals gab es eine einzige Psychologin, die sich im Auftrag des Justizministeriums vorwiegend sozialarbeiterisch um die Belange der Kinder kümmerte.
Der Verein begann seine Arbeit ehrenamtlich, ohne finanzielle Ausstattung. Am Anfang stand die medizinische Grundversorgung im Vordergrund. Weil der Verein als erster und einziger sich in diesem Bereich engagierte, trat das Justizministerium an den Verein heran mit dem Vorschlag, die Arbeit mit straffälligen Kindern zu übernehmen. Die methodischen Ansätze für die Arbeit mussten aufgebaut und entwickelt werden.
Die Arbeit wurde mit Programmen begonnen für die Kinder in der U-Haft einmal pro Woche: Eine Musiklehrerin sang mit den Kindern, Gesprächsrunden wurden organisiert, eine Schneiderwerkstatt wurde eingerichtet und Nähunterricht erteilt. Ziel war, auch bei nur kurzzeitigem Aufenthalt, die Kinder sinnvoll zu beschäftigen.
Von Seiten des Vollzugspersonals gab es anfänglich viel Skepsis bis Ablehnung gegenüber der Arbeit des Vereins.
In der Öffentlichkeit gab es keinerlei Bewusstsein über das Problem Straffälligkeit und Inhaftierung von Kindern. Deshalb wurde vom Verein Öffentlichkeitsarbeit betrieben in Form von Podiumsdiskussionen, Fachkongressen und Pressearbeit zum Thema Jugendkriminalität.
Für die Arbeit gab es zunächst ein vom Justizministerium zur Verfügung gestelltes Büro im Justizgebäude. Ebenso gab es einen Arbeitsauftrag: Versorgung der Kinder mit Essen und Kleidung im Justizgebäude und die Rückführung der auswärtigen Kinder in ihre Heimatdörfer.
Die Stiftung leistet im vereinseigenen Gebäude im Istanbuler Stadtteil Kadıköy Tagesbetreuung für Kinder, die nicht in U-Haft bleiben müssen, sich aber einem Strafverfahren stellen müssen. Sie werden vom Gericht an die Stiftung zur weiteren Betreuung vermittelt.
Die betreuten Kinder werden zunächst einer medizinischen Grundversorgung unterzogen, sodann wird Kontakt zur Herkunftsfamilie aufgenommen, mit dem Ziel, die Kinder in die Familie zurückzuführen. Gleichzeitig erhält die Familie entsprechende Unterstützung, damit dies überhaupt möglich ist. Die Einrichtung bietet den Kindern tagsüber Unterricht und Freizeitangebote, sie können auch ihre Geschwister mitbringen. Der Unterricht, der zumeist von Ehrenamtlichen durchgeführt wird, umfasst z.B. auch Englisch, Französisch, es werden aber auch Theater- und Psychodramagruppen, Basteln, Körperübungen, Ausflüge usw. angeboten. Mit jedem einzelnen Kind werde ein Plan zur schulischen und beruflichen Perspektive erstellt. Die Darstellung der Tätigkeiten des Vereins wurde durch einen Diavortrag (Freizeitcamps, Renovierungsprojekt Yenikayı, Ausflüge) ergänzt.
Die Arbeit der Stiftung in den U-Haftanstalten zielt auf eine sinnvolle Beschäftigung der Kinder und Abbau aggressiven Verhaltens. Die Fortbildungsangebote für Vollzugsbeamten haben bei diesen einen Bewusstseinswandel und Lernprozesse in Gang gesetzt. Die Arbeit der Stiftung hat mittlerweile seitens der Justizbediensteten erheblich an Vertrauen gewonnen, die anfängliche Skepsis ist gewichen. Inzwischen gibt es sogar eine gemeinsame Volleyballgruppe des Vollzugspersonals mit den gefangenen Kindern.
Nach dem kurzen Einblick in die Entstehungsgeschichte und der gegenwärtigen Arbeit der Stiftung greift Frau Haştemoĝlu das Thema einer möglichen Zusammenarbeit auf.
Sie beginnt sehr diplomatisch mit den Schwierigkeiten gegenseitigen Verstehens oder Nichtverstehens, auch könne durch die Übersetzungen vom Türkischen ins Deutsche und umgekehrt viel verloren gehen.
Dann kommt sie zu ihren Überlegungen über das zu besprechende Projekt. Sie vergleicht zunächst die gegenwärtige Arbeit mit den Kindern in der Einrichtung mit einer zukünftigen Arbeit mit Kindern (Jugendlichen) in einem Migrantenprojekt.

Unsere Kinder Eure Kinder
Bekannt Unbekannt
Kinder sind wertvoll ?
Liebe zu den Kindern wird gezeigt, zurück kommt Respekt ?
Kontakt zur Familie hat hohen Stellenwert ?
Kinder kommen freiwillig und gerne ?
die Gesellschaft unterstützt diese Arbeit ?
das Image ist positiv ?
Entwicklung einer Zukunftsperspektive in der Türkei für die Kinder ist Teil der Arbeit ?


Dann berichtet sie, dass die finanziellen und personellen Möglichkeiten der Stiftung sehr eingeschränkt wurden (von acht Festangestellten auf nur noch zwei), man hat zwar versucht einen Ausgleich durch Ehrenamtliche zu schaffen, dies aber nur partiell erreicht. Öffentlichkeitsarbeit und Fundrising hat deshalb einen hohen Stellenwert.

Weitere Überlegungen zu einer Projektkooperation:
Ein gemeinsames Projekt ist nicht unmöglich, es gibt jedoch bestimmte Bedingungen von Seiten der Stiftung:
·         Die Stiftung behält sich die Auswahl der Kinder vor, die an dem Projekt teilnehmen.
·         Frau H. möchte das schon bestehende Projekt in Marokko selbst kennen lernen.
·         Beim Projekt soll finanziell etwas herausspringen für die Arbeit mit den Kindern vor Ort (in der Türkei kann billiger gearbeitet werden).
·         Die weiteren Verhandlungen finden auf einer institutionellen und strategischen Ebene statt und nicht wie bisher auf einer persönlich privaten. Frau H. meint, dass dies sonst dem Ansehen des Vereins und der Stiftung und den Kontakten und Verbindungen schaden könnte.
·         Die schriftlichen Grundlagen, Verträge und Vereinbarungen liegen alle in deutscher und türkischer Sprache vor.

Antwort von Harry Hubert auf diese Fragen und Bedingungen:
Der Anschein des „Inoffiziellen“ kommt daher, dass diese Reise, was das Projekt anbetrifft, nur ein erster Schritt ist, eine erste Kontaktaufnahme. Herr Hubert ist jedoch autorisiert zu Verhandlungen und hat dazu auch einen Auftrag der Stadt Frankfurt. Als Beispiel für den Ablauf solcher Verhandlungen wird die Erdbebenhilfe erwähnt: Erste Kontakte, Vorgespräche, Vertragsentwürfe (zweisprachig), Austausch, Korrekturen, Unterzeichnung auf höherer Ebene. Zur Finanzierung sind Verhandlungen notwendig, Pflegesatzkostenverhandlungen (Pflegesatz beinhaltet anteilig Personal- und Sachkosten). Ein Vertrag beinhaltet, dass für eine bestimmte Summe eine bestimmte Leistung erbracht wird. Ob eine Finanzierung von Arbeit vor Ort möglich ist, muss verhandelt und kalkuliert werden. Finanzspielraum ist durch die geringeren Pflegesatzkosten in der Türkei eventuell da. Pädagogische Ziele müssen erarbeitet werden für das Projekt allgemein ebenso wie für den Einzelfall. Die Hilfepläne werden regelmäßig überprüft und kontrolliert.
Um das Projekt nicht von Anfang an zu gefährden, wird man sinnvoller weise nicht die allerschwierigsten Jugendlichen und verfahrensten Fälle auswählen. Wie die Projektteilnehmer ausgesucht werden, muss noch verhandelt werden. Die Teilnahme am Projekt ist freiwillig, es ist ein Angebot an die Jugendlichen. Der Aufenthalt in der Türkei soll den Jugendlichen eine Orientierungshilfe bieten, sich zwischen der türkischen und deutschen Identität zurechtzufinden, sich für eine Identität zu entscheiden oder aus der Integration beider Identitäten eine neue zu finden. Der Aufenthalt in der Türkei ist nur ein Aspekt im gesamten Resozialisierungsprogramm und man sollte dafür nicht zu hohe Ziele ansetzen. Der letzte Effekt, den das Projekt haben wird, ist der Fachkräfteaustausch.
Frau H. zum Abschluss: Die Stiftung bekundet ihr Interesse an einer Zusammenarbeit. Die Stiftung ist flexibler als der Staat und Frau H. hat schon eine Idee für die Umsetzung: Unter Umständen könnte man Schulferiendörfer für das Projekt nutzen, die in der Schulzeit leer stehen.
Herr Hubert versichert noch einmal, dass nicht daran gedacht ist 10 „Mehmets“ zum Start des Projekts in die Türkei zu schicken, sondern an einen langsamen, vorsichtigen Beginn.

13:00 – 15:30              Fortsetzung des Erfahrungsaustausches über die psychosoziale Versorgung von straffälligen Kindern und Jugendlichen/Aus- und Fortbildung von psychosozialen Fachkräften in der Türkei mit Frau Prof. Inci User, Istanbul, Roswitha Mittenzwei

Frau Prof. Inci User teilt die kritische Haltung ihrer Kollegin und berichtet über die verschiedenen Berufsmöglichkeiten in der Türkei. Sie selbst ist ausgebildete Psychologin und Soziologin (USA). Sie arbeitete sechs Jahre als psychologische Beraterin in einer Kinderklinik in Istanbul. Sie war mit der vorher beschriebenen Not konfrontiert, mehr zu wissen, aber nicht entsprechend arbeiten  bzw. in der Klinik verändern zu können.
Sie arbeitete seitdem in Lehre, Forschung und Versorgung (hier niedergelassen wie ihre Kollegin, aber als „Beraterin“ von Kindern und Familien). Sie behandelt die Begriffe Beratung und Therapie  sehr eng, da sie selbst nicht als Therapeutin ausgebildet ist, das Bewusstsein in der Türkei über Psychotherapie noch unklar bleibt als auch nur zwei therapeutische Schulen in der Türkei psychotherapeutische Weiterbildung anbieten (Psychodrama und Psychoanalyse). Es gebe zwar ein akademisches, aber kein klares praktisches Verständnis von Psychotherapie.
Die psychosozialen Berufe in der Türkei:
Den Berufsweg der Psychologin gibt es schon sehr lange (Republikgründung). 72 staatliche und acht private Universitäten verfügen jeweils über eine psychologische Fakultät; d.h. fast an allen Universitäten wird Psychologie gelehrt. Ein Abschluss als Master ist jedoch nur an wenigen Universitäten möglich. Man darf sich ohne weitere Qualifikation Psychologe nennen. Es gibt zur Zeit in der Türkei noch keine weiterführenden Qualifizierungsmöglichkeiten für Psychologen.
Seit den 60-er Jahren gebe es an der Universität in Ankara den einzigen Fachbereich für Sozialarbeit. Die diplomierten Sozialarbeiter fänden jedoch weder im Gesundheits- noch im Sozialwesen genügend Beschäftigungsmöglichkeiten.
So bleibt nur, in Lehre und Forschung oder in privaten Initiativen Arbeit zu suchen.
Es gibt, von zwei Ministerien in Ankara zentral eingerichtet, das „Institut für Sozialarbeit und Kinderschutz“. Dort arbeiten Psychologen mit sonder- und heilpädagogischer Ausrichtung überwiegend für Waisen und alte Menschen.
In den 60-er Jahren wurde per Gesetz erlassen, dass die Schulen psychologisch geschulte Berater benötigen. Zu diesem Zweck wurden zunächst Laienberater eingesetzt, später Psychologen oder Sozialarbeiter in der Schule eingestellt. Es gibt keine vergleichbare Schulsozialarbeit. Die geleistete Tätigkeit muss eher als Begleitung angesehen werden. Für schwierige Kinder im Alter von 12 bis 18 Jahren gibt es Besserungsanstalten (vier Einrichtungen mit 109 Erziehungspersonen).
Seit den 80-er Jahren gründeten sich zahlreiche NGO’s in der Schulausbildung und im Gesundheitsbereich.
Ausbildung zum Pädagogen gebe es an den Universitäten in den Bereichen Kinderpsychologie und im Bereich der pädagogischen Grundlagen des Lehrerstudiums. Der Beruf des Erziehers für Vorschulen steht Frauen offen; hier geht es um Wissensvermittlung im Bereich Tagespflege.
Nur 8 % aller Kinder in der Türkei besuchen eine Vorschule, die unseren Kindergärten entspricht. Es gibt Krabbelgruppen, Kindergarten mit Vorschulerziehung, Vorklassen in den Schulen. Die Kinder müssen in der Türkei acht Jahre Grund- und Hauptschule absolvieren. Ab der 8. Klasse bis zur 11. Klasse kann eine Oberschule besucht werden. Erst ab der 9. Klasse werden Fremdsprachen unterrichtet. Es gibt staatliche, ausländische, private und religiöse Schulen.

  16:00 – 17:30              Besuch des Straßenkinderzentrums „Ümüt Evi“, Bakırköy/Istanbul, Lothar Hochgesand

Am Nachmittag besuchten wir „Ümüt Evi“, ein Straßenkinderzentrum im westlichen Stadtteil Bakırköy/Istanbul.
Träger dieser Einrichtung ist ein Verein der vor 2 ½ Jahren von engagierten Bürgern gegründet wurde. Die Zielgruppe des Vereins sind obdachlose Kinder die in Istanbul aufgegriffen werden und ihren Lebensunterhalt durch Betteln oder den Verkauf von Taschentüchern o. ä. bestreiten.
Der Leiter der Einrichtung berichtete uns, die finanziellen Mittel des Vereins würden durch Zuwendungen der Weltbank sowie durch Sachspenden abgedeckt.
Die containerähnlichen Gebäude, in der sich die Einrichtung befindet, wurden von der Regierung zur Verfügung gestellt.
Die Einrichtung verfügt derzeitig über 50 Plätze, eine Erweiterung auf 100 Plätze sei außerhalb der Stadt geplant.
Die Kinder, die in die Einrichtung aufgenommen werden, kommen oft ursprünglich aus ländlichen Gebieten der Türkei und leben zum Teil schon seit Jahren in Istanbul auf der Straße.
Das Überleben auf der Straße findet meist in streng hierarchisch strukturierten Gruppen statt, zu denen die pädagogischen Mitarbeiter des Vereins kaum Zugang finden. Aus diesem Grunde arbeitet der Verein mit ehemals Betroffenen als Multiplikatoren vor Ort.
Das Hilfeangebot der Einrichtung beinhalte sowohl eine medizinische Erstversorgung als auch eine Versorgung mit Kleidung. Nach Schilderung des Heimleiters ergibt sich die Notwendigkeit dieses medizinischen Angebotes, weil die aufgenommenen Kinder oft durch z.B. Klebstoff-Schnüffeln gesundheitlich stark geschädigt und behandlungsbedürftig seien.
Die Mitarbeiter der Einrichtung betreuen die Kinder tagsüber, nachts ist lediglich ein Nachtwächter vorhanden.
Die Verweildauer in der Einrichtung soll zwischen 3 bis 12 Monaten liegen, wird aber meist überschritten aufgrund der mangelnden Möglichkeiten die Kinder wieder in die Familie integrieren zu können. So komme es häufig vor, dass ehemalige Bewohner der Einrichtung wieder dem Elternhaus entfliehen, um auf der Straße zu leben.
Während der Unterbringung in der Einrichtung werden die Kinder von ehrenamtlich tätigen Lehrern beschult. Eine Integration in die staatliche Regelschule ist zumeist nicht durchführbar, da die Kinder nur wenig oder bisher nie die Schule besuchten und insoweit über keinerlei entsprechenden Vorkenntnisse verfügen.
Während des Gespräches mit dem Heimleiter hatten wir auch die Gelegenheit mit 6 betroffenen Kindern zu sprechen. Sie waren zwischen 12 und 18 Jahren alt und lebten vor ihrer Aufnahme in der Einrichtung schon jahrelang auf den Straßen Istanbuls. Sie haben ihre Familien verlassen, da sich niemand mehr um sie gekümmert habe oder weil sie misshandelt wurden.
Meist war ein Elternteil verstorben und nach erneuter Heirat war durch die veränderte Situation kein Platz mehr für sie in der Familie. Sie stammen alle aus sehr armen Verhältnissen, teilweise aus dem Osten der Türkei.
In Istanbul haben sie sich dann Straßenkindergruppen angeschlossen und sich als Bettler oder Schuhputzer ernährt. Teilweise sind sie schon seit ihrem 7. Lebensjahr auf der Straße und übernachten in Abrisshäusern unter Pappschachteln.
Die derzeitige personelle Situation: 1 Heimleiter, 4 Hausmütter, 1 Fahrer, 1 Nachtwächter und nebenamtlich Tätige bzw. Honorarkräfte.
Die räumliche Ausstattung: mehrere Schlafräume für jeweils 10 Kinder mit Stockbetten, 2 Aufenthaltsräume mit TV, 3 Gruppenräume für Unterricht, 1 Küche, Waschräume.
In unmittelbarer Nachbarschaft zu dieser Einrichtung befindet sich eine Untersuchungshaftanstalt, in der auch Jugendliche aufgenommen werden. Eine Besichtigung war uns jedoch leider nicht möglich.


    Montag, den 03. April 2000

  10:00 – 14:00              Besuch der Universität Istanbul, Rechtsmedizinische Fakultät, Institut für Kriminologie und Forensische Medizin Erfahrungsaustausch betreffend Kinder- und Jugendkriminalität, Heinke Vogel

Empfang in der Universität Istanbul Institut für Rechtsmedizin und forensische Wissenschaft (Istanbul Üniversitesi Adli Tıp Enstitüsü) durch die Direktorin Fr. Prof. Dr. Sevil Atasoy. Ausführliche Vorträge über die Arbeit dieser Fakultät und den aktuellen Stand der Wissenschaft (Professoren Dres. Atasoy, Gökdoĝan und Kalfoĝlu, Dipl. Päd. Dr. Neylan Ziyalar) und eine Einführung in das türkische Jugendstrafrecht durch den Richter Herrn Tanıl Başkan. Erfahrungsaustausch betreffend Kinder- und Jugendkriminalität, anschließend Fortsetzung der Diskussion bei gemeinsamen Mittagessen.
Dieses Institut der Universität ist ein Ausbildungszentrum, direkt an das Rektorat angebunden. Ziel und Zweck ist es, die Studenten und wissenschaftlichen Mitarbeiter aus verschiedenen Disziplinen zusammenzuführen für interdisziplinäre Doktor- und Magisterarbeiten.
Diese drei Fachgebiete sind:
·         Medizinischer Fachbereich: Ärzte, Fach- und Zahnärzte.
·         Naturwissenschaftlicher Bereich: Chemiker, Biologen und Pharmazeuten.
·         Sozialwissenschaftlicher Bereich: Staatsanwälte, Richter, Psychologen, Pädagogen.

Am Institut ist es möglich, Zusatzausbildungen zu machen, z.B. als Gutachter, Kriminologietechniker, Kriminologielaboranten und Privatgutachter. Weiter wird ausgebildet in Genetik, Narkotik, Forensische Toxikologie, DNA-Analyse und Forensische Odontologie.
Außer Ausbildung und Forschung gibt es für die verschiedenen Professionen Gutachterausbildungen. Außerdem gibt es Aus- und Fortbildungen für Vernehmenstechniken bei Kindern, die von sexuellem Missbrauch betroffen sind. Zusammenfassend wird das hohe Maß an interdisziplinärer Arbeit erwähnt und betont.


  In diesem Institut finden wir weiter 4 Zentren:
·         Forensische Wissenschaft
·         Prävention
·         Forensische Identifikation (DNA-Analyse)
·         Narkotik-Analyse
Das Zentrum Forensische Identifikation (DNA-Analyse) hat folgende Aufgaben:
·         Aufträge vom Gericht oder privat zur Feststellung der Vaterschaft
·         Verwandtschaftsfeststellung (weltweit einmaliges Verfahren wird in der Türkei angewandt)
·         Vaterschaftsfeststellung bei zweieiigen Zwillingen von verschiedenen Vätern
·         Bearbeitung von Samen, Speichel, Blut, Knochen, Haaren und Zähnen (biologisches Material für DNA-Analysen)
 

Erfahrungsaustausch betr. Kinder- und Jugendkriminalität, Günay Özyilmaz

Jugendrichter Herr Tanıl Başkan informiert über die Jugendgerichtsbarkeit und den Aufbau der Jugendgerichte in der Türkei.
Es ist vorgesehen in allen Gerichten in Städten über 100.000 Einwohner Kindergerichte (çocuk mahkeme) zu gründen. Kindergerichte bestehen aus einem/einer Vorsitzenden und zwei beisitzenden Richter/innen. Die vorsitzenden und beisitzenden Richter/innen der Kindergerichte werden von einem Ausschuss der örtlichen Gerichte, dem Vertreter der Staatsanwaltschaft und Richter angehören, beauftragt. Hierbei seien allerdings die vorhandenen Personalressourcen zu berücksichtigen.
Die Richter/innen sollen vorzugsweise über 30 Jahre alt sein und selbst Kinder haben. Die Jugendgerichte sollen ausgewogen mit Richterinnen und Richtern besetzt sein. Jedem Jugendgericht soll ein Sozialdienst angegliedert sein, bestehend aus: Pädagogen, Sozialarbeitern und Psychologen.

  Jugendstrafrecht:
Das tJGG definiert drei Altersgruppen. Kinder unter 12 Jahren, also von 0 - bis 11. Lebensjahr, werden als Minderjährige (çocuk) bezeichnet. Gegen sie darf kein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet werden, es sei denn, dass ein zu erwartendes Strafmaß mehr als ein Jahr Jugendstrafe betragen und die Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt würde.
Maßnahmen gegen „Kinder“ (çocuk), die das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet haben: Kinder, die zum Tatzeitpunkt das 12. Lebensjahr vollendet haben, werden auf ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit hin untersucht. Ein psychiatrisches Gutachten muss feststellen, ob das Kind aufgrund seiner geistigen und seelischen Entwicklung das Unrecht seines Handelns und die Folgen der Straftat begreift.
Wenn festgestellt wird, dass noch kein Unrechtsbewusst vorhanden ist, kann auch keine Verurteilung oder Bestrafung erfolgen. In diesem Falle können folgende Maßnahmen durchgeführt werden:

  ·         Übergabe an die Eltern oder für den Unterhalt aufkommende Verwandte
·         Unterbringung in einem Jugendheim in staatlicher oder freier Trägerschaft

·         Unterbringung in einem öffentlichen oder privaten Krankenhaus oder in einer Einrichtung für Behinderte
Ansonsten werden folgende Strafen angewendet:
·         anstelle der Todesstrafe: 15 Jahre Haftstrafe, statt lebenslanger Haftstrafe: 10 Jahre Haftstrafe ·         bei allen anderen Strafen wird nur die Hälfte der Strafe, die ein Erwachsener erhalten würde, verhängt ·         für behinderte Personen, die stumm oder taub sind und zum Tatzeitpunkt ihr 15. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, darf grundsätzlich kein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden, für diesen Personenkreis werden i.d.R. die o.a. Maßnahmen durchgeführt, diese Maßnahmen enden mit Vollendung des 18. Lebensjahres

16 - 18. Lebensjahr: Minderjährige zwischen 16 und 18 Jahren werden „Jugendliche“ (genç) genannt und vor Erwachsenengerichten abgeurteilt. Für Jugendliche gilt die allgemeine Strafprozessordnung. Das Strafmaß des tStGB wird bei Jugendlichen um 1/3 reduziert.

Jugendliche, die zum Zeitpunkt der Verurteilung das 18. Lebensjahr vollendet haben, werden in einer allgemeinen Justizvollzugsanstalt untergebracht, bei guter Führung wechseln sie in eine Besserungsanstalt.
1980 wurden in vier Städten Kindergerichte (çocukmahkeme) gegründet, und zwar in Istanbul, Ankara, Izmir und in Trabzon (Schwarzmeerküste). In den Städten, in denen (noch) keine Kindergerichte eingerichtet wurden, sind die allgemeinen Gerichte auch für die Jugendgerichtsbarkeit zuständig.

Für Kinder, die zum Zeitpunkt der Tat das 11. Lebensjahr vollendet aber das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, wird vor der Urteilsfindung der geistige und seelische Zustand des Kindes untersucht, es wird begutachtet, ob das Kind die Tat und deren Folgen sowie die Bedeutung der Strafe begreift.
Ferner werden auf richterliche Anordnung hin die familiäre Situation, die Erziehung, evtl. Schulprobleme und die Umwelt des Kindes durch den Sozialdienst (Pädagogen, Psychologen, Jugendgerichtshilfe) untersucht.
Auch in Strafsachen gegen Kinder werden die Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft durchgeführt. Jede Straftat wird durch die Staatsanwaltschaft angeklagt und es wird ein Hauptverfahren eröffnet:

·         Im Zusammenhang von Straftaten kann gegen Kinder keine Zivilklage (Nebenklage) erhoben werden.
·         Bei der Vernehmung von Kindern durch die Staatsanwaltschaft muss ein Verteidiger anwesend sein.
·         Der fachliche Austausch zwischen Richtern und Sozialdienst läuft auch in Istanbul nicht wie erwartet. Das lassen die Zahlen unschwer erkennen: in 1.300 Fällen im Jahr wurden lediglich 13 Sozialberichte erstellt.



  Ehe- und Kindschafsrecht im türkischen Bürgerlichen Gesetzbuch:
Wenn ein Kind in seinem leiblichen und geistigen Wohl gefährdet ist oder es zu verwahrlosen droht, so kann das Gericht rein rechtlich eingreifen, praktisch bestehen jedoch derzeit keine Einrichtung in der es untergebracht werden könnte. Hier muss eine soziale bzw. jugendhilferechtliche Infrastruktur erst noch aufgebaut werden.
Nach einer Scheidung wird das Sorgerecht durch das Familiengericht, je nach Alter des Kindes und nach der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Eltern, entweder dem Vater oder der Mutter übertragen. Bezüglich Säuglingen und Kleinkindern wird i.d.R. das Sorgerecht der Mutter zugesprochen. Die Türkei hat das Haager Abkommen über den Schutz der Minderjährigen unterzeichnet.
Pflege und Erziehung der Kinder sind auch in der Türkei das natürliche Recht der Eltern. Es kann diesen nicht ohne rechtmäßigen Grund entzogen werden.
Wenn die Eltern ihrer Sorgepflicht gegenüber dem Kinde nicht nachkommen, so kann der Richter notwendige Maßnahmen zum Schutze des Kindes treffen.
Er kann den Eltern das Sorgerecht (“Elterliche Gewalt“) entziehen und das Kind der Obhut einer Pflegefamilie anvertrauen oder die Unterbringung in einem Krankenhaus oder einer Behinderteneinrichtung anordnen. Wenn das Sorgerecht den Eltern entzogen ist, wird für das Kind ein Vormund bestellt.


Dienstag, den 04. April 2000

  10:00 – 12:30              Besuch des 2. Kinder- und Jugendgerichts in Istanbul, Teilnahme an mehreren Hauptverhandlungen, Harry Hubert

Besuch des 2. Kinder- und Jugendgerichts in Istanbul, Teilnahme an einer Hauptverhandlung, Gespräch mit dem Jugendrichter, Herrn Günay Kumru und Kollegen. Erfahrungsaustausch mit Kolleginnen und Kollegen des Sozialdienstes.
Nach einer Teilnahme in drei Gruppen an verschiedenen Hauptverhandlungsterminen wurden wir durch den Jugendrichter Herrn Günay Kumru empfangen und zunächst über die Situation der Jugendgerichtsbarkeit in Istanbul informiert. In Istanbul sind inzwischen zwei Jugendgerichte eingerichtet. An jedem Jugendgericht sind jährlich ca. 4.000 Jugendstrafsachen anhängig und es werden p.a. jeweils ca. 2.000 Urteile verhängt. An dem besuchten Jugendgericht wurde ein Sozialdienst bestehend aus fünf Fachkräften eingerichtet. Die Kammer entscheidet selbst, in welchen Fällen ein Sozialbericht eingeholt wird. Herr Kumru berichtet kritisch, das die Gerichte auf Grund einer fehlenden öffentlichen Sozialstruktur nicht angemessen im Sinne des Kindeswohls entscheiden können und sie auf die Arbeit freier Träger (NGO’s), wie z.B. TÇYO, unbedingt angewiesen sind. Zur Reform des türkischen JGG von 1979 liege seit 1997 ein Entwurf vor, über den das Parlament aber wegen Arbeitsüberlastung bisher noch nicht entschieden habe. Wegen damit eingetretener Fristversäumnisse müsse nun ein neuer Entwurf eingebracht werden, was wiederum viel zu viel Zeit in Anspruch nehme. Die Überlastung des Parlamentes hänge z.B. auch mit den häufigen Regierungswechseln zusammen. Nach seiner persönlichen Auffassung habe Jugendkriminalität soziale Ursachen (desolate Familienverhältnisse, negative Auswirkungen des sozialen Umfelds, planlose Zuwanderung aus ländlichen Gebieten in die überfüllten Großstädte, Zerfall der Großfamilie).
Diese Aussagen wurden in dem sich anschließenden Erfahrungsaustausch mit dem anwesenden Kollegium des Sozialdienstes bestätigt. Eine wissenschaftliche Untersuchung sei inzwischen zu den gleichen Ergebnissen gelangt. Es gäbe schon Überlegungen zum Ausbau präventiver Arbeit, auf Grund fehlender Jugendgerichte und entsprechender Sozialdienste sei hier die Diskussion aber eher noch am Anfang. Der Erfolg der geleisteten Resozialisierungsarbeit sei durchaus gut zu bewerten, denn es gebe nur wenig Rückfall- bzw. Wiederholungstäter. Der Sozialdienst werde jedoch bisher in viel zu wenigen Fällen eingeschaltet. Sozialberichte werden leider nur in 2-3 % der Jugendstraferfahren angefordert, da in vielen Fällen von vorneherein davon Abstand genommen werde, weil dies als zwecklos erscheine. 60% der Verfahren beträfen Kinder- und Jugendliche aus “Zigeuner“-Familien. Bemängelt wurde, dass es seitens des Justizministeriums in Ankara zu wenig Unterstützung für die Umsetzung der beabsichtigten Reformen und des Ausbaues eines sozialen Netzes geben würde.

  13:30 – 17:30              Besichtigung: Topkapı-Palast, Hagia Sophia und Yerebatan-Serail (Unterirdische Zisternen)


Mittwoch, den 05. April 2000

10.00                          Ausführliche Besprechung des bisherigen Verlaufs der Reise, anschließend Zeit zur freien Verfügung.
 

Donnerstag, den 06. April 2000

  09:30 – 10:00             Stiftung, Verabschiedung, Offizielle Verabschiedung beim Kooperationspartner, Überreichung der Gastgeschenke.

  10:30 – 12:00              Kinderschutzabteilung der Istanbuler Polizei, Üsküdar, Klaus Fischer

Besuch der Kinderschutzabteilung der Istanbuler Polizei im Stadtteil Üsküdar: Empfang durch den Polizeivizepräsidenten von Istanbul Herrn Yaşar Aĝdere und der Leiterin der Einrichtung Frau Filiz Kaya.
Die Kinderschutzabteilung der Polizei ist in einem Gebäude der Polizei in dem Stadtteil Üsküdar untergebracht. Dieses Gebäude ist sehr gut gesichert, sodass niemand aus dem Haus kann, ohne eine Sicherheitsschleuse passieren zu müssen.
Wir wurden dort von der Leiterin der Abteilung empfangen, die uns über die Aufgaben der Polizei im Zusammenhang mit gefährdeten Kindern berichtet.
Die Abteilung besteht unter anderem aus mehreren Gruppen von Polizeibeamten, die abends und nachts das Stadtgebiet Istanbuls bestreifen und hauptsächlich gefährdete Kinder aufgreifen. Diese Kinder werden in das o.a. Gebäude gebracht: hier gibt es Schlafräume mit 14 Betten, Waschraum, Küche und einen Aufenthaltsraum.
Die Erstversorgung der Kinder betrifft hauptsächlich die körperliche und gesundheitliche Pflege, sowie die Versorgung mit angemessener Kleidung.
In der Mehrzahl der Fälle (ca. 130 Kinder pro Monat) werden die Kinder nach 1-2 Tagen den Eltern wieder zugeführt. Im Zuge dessen werden die Eltern aufgefordert, eine schriftliche Erklärung abzugeben, ihre Kinder künftig besser zu betreuen.
Sollte es dennoch zu erneutem Aufgreifen eines Kindes kommen, so wird eine Sozialarbeiterin tätig, die ebenfalls Mitarbeiterin der Polizei ist. Sie fertigt einen Bericht, der ihre Informationen über die betroffene Familie darstellt. Dieser Bericht geht dem (Kinder- bzw. Jugend-) Gericht zu, das entsprechende (gesetzliche) Maßnahmen (Hilfen) einleitet. Hilfen in diesem Zusammenhang werden als freiwillig deklariert und durch finanzielle Unterstützung des Staates möglich gemacht.
Kinder, deren Familien außerhalb Istanbuls wohnen, oder die aus Heimen weggelaufen sind, werden ebenfalls hier versorgt und nötigenfalls in Ihre Heimatorte zurückgeführt.
Auf die Frage, ob die Kinderschutzabteilung auch in anderen Polizeirevieren in Istanbul eingerichtet werden soll, wurde zum einen darauf hingewiesen, dass es in absehbarer Zeit eine neue Einrichtung geben soll, die die aufgegriffenen Kinder aufnehmen und versorgen kann, zum anderen die Stadtverwaltung nicht an eine Erweiterung der Abteilung denkt.
Die finanzielle Unterstützung bezüglich Kleidung, Essen und der Versorgung mit Medikamenten für die Kinder wird von einem Verein der Polizei und der Stadtverwaltung sichergestellt.
Zum Abschluss wurde das Problem der präventiven Arbeit, sowie die Zusammenarbeit mit anderen im Bereich der Hilfen für Straßenkinder tätigen Einrichtungen angesprochen.
Es wurde erwähnt, dass die Kinderschutzkommission seit 10 Jahren existiert. Weiterhin gibt es eine Fachkonferenz des Kinderschutzes, die von verschiedenen Stiftungen und Vereinen unterstützt werde. Die o.a. Leiterin der Abteilung Kinderschutz der Polizei ist Mitglied in mehreren Arbeitskreisen, die sich mit der Problematik der Straßenkinder befassen.
Präventive Arbeit zu leisten, ist nach ihrer Auffassung allerdings nicht Aufgabe der Polizei, sie verweist hier auf die Zuständigkeit des Kinderschutzbundes.

  12:00 – 17:30              Bootsfahrt nach Beykoz, Verabschiedung, Gemeinsame Bootsfahrt mit der Fähre nach Beykoz (Schwarzmeerküste), Verabschiedung von Emrah Kırımsoy, die uns die ganze Reise über begleitet hatte.


  Freitag, den 07. April 2000

  13:20 (OZ)                  Rückflug nach Frankfurt a.M.
17:25 (MESZ)             Ankunft Frankfurt a.M.